Alles auf Anfang Marie - Roman
Hilde zu ihm. »Diese Frau hat mehr Sex als wir beide zusammen.«
Das trug nicht dazu bei, dass er sich entspannte. Er entschied sich, nur verlegen zu grinsen und dann die Flucht zu ergreifen.
»Wie konntest du das sagen!«, regte ich mich auf. Irgendwie war mir das schon peinlich, auch wenn dieser Typ mich nicht kannte.
»Aber es stimmt doch!«, verteidigte sie sich. »Ich hatte noch nie Sex mit dem Kellner zusammen.«
Einen Moment lang starrte ich sie verblüfft an, dann brachen wir beide in Gelächter aus, und die drei jungen Mädchen am Nebentisch schüttelten empört die Köpfe. Vermutlich waren sie der Meinung, es gehörte sich einfach nicht, dass sich zwei alte Schachteln wie wir noch so benahmen.
Als wir gegessen und uns danach heldenhaft auf zwei Espresso mit Süßstoff beschränkt hatten, zückte Hilde ihr Portemonnaie. »Ich lade dich ein«, bestimmte sie. »Keine Widerrede. Erstens will Peter das so. Und zweitens habeich mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten. Lass uns das demnächst mal wiederholen.«
Von mir aus gern. Mit dieser Hilde würde ich jederzeit wieder ausgehen, vorausgesetzt, sie verzichtete darauf, jungen Männern unpassende Details aus meinem Sexualleben zu erzählen.
Ich habe alles, was ich brauche. Bei allen Bedenken beeindruckte mich Hildes Aussage. Ich fragte mich, ob ich das auch so sagen könnte, wenn mich jemand fragte. Spontan geantwortet: Klar, ich habe alles, was ich brauche. Den Mann, den ich seit über fünfundzwanzig Jahren liebe und der nicht so ein arroganter Arsch ist wie Peter oder ein Knaller wie Bernhard oder ein Laberkopf oder ein Frauenheld oder … Gut, weiter. Zwei mehr oder weniger wohlgelungene Kinder. Wohlstand. Ein Haus, ein Auto. Gesundheit, wie mir Dr. Göbel gerade bestätigt hatte.
Und doch empfand ich da eine Lücke. Umso mehr, seitdem ich mitbekommen hatte, wie Hilde durch die Galerie etwas gefunden hatte, was ihr wirklich wichtig war. Ich für mein Teil hatte dabei nur eins ganz sicher festgestellt: Ein Malkurs kam nicht in Frage. Ich hatte absolut keine Lust, mit dilettantischen Blumenstücken in irgendwelchen Hobbykünstlerausstellungen zu landen wie die Leinwandfrauen. Und diesen Beschluss konnte ich auch gleich auf andere Bereiche wie Patchworken, Töpfern oder Chorsingen ausweiten. Ich war nicht zur Künstlerin bestimmt, wurde mir klar. Ich fand es noch nicht mal besonders bedauerlich, als ich diesen ganzen Bereich gedanklich von meiner Liste strich, während ich mit meinem neuen Koffer durch Bredenscheid trabte. Manchmal war ich ziemlich schnell mit solchen Sachen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mich gegen etwas entschieden hatte. Eine Sache abzuhaken ist vermutlichleichter, als sie mit ganzem Herzen anzunehmen. Jedenfalls ging es mir mit dieser China-Frage so.
Auf dem Platz vor dem Rathaus war ein kleiner Markt aufgebaut – keine Profis, keine Gemüsefrauen, eher eine Ansammlung von Einrichtungen, die Selbstgemachtes feilboten. »Markt der helfenden Hände« stand auf einem großen Plakat. An den Schildern der einzelnen Stände erkannte ich, dass der katholische Kindergarten St. Martinus für die bunten Fensterbilder verantwortlich war, die Frauen einer evangelischen Freikirche hatten Marmelade eingekocht, eine Pfadfindergruppe verkaufte gebrauchte Bücher.
Ich hatte Zeit. Henning war unterwegs, keiner wartete auf mich. Deshalb sah ich mir in Ruhe die Auslagen an, kaufte einem netten Pfadfinder mit Sommersprossen einen Krimi von Dick Francis ab und überlegte, ob Lotta eine der handgenähten Taschen gefallen würde.
»Die sind alle selbst gemacht!«, versicherte mir die Frau hinter dem Tisch. »Das ist garantiert kein China-Import.«
Ach ja, wieder China. »Ich nehme die blaue«, sagte ich.
»Eine gute Wahl«, sagte sie.
Jetzt hatte ich zwei Taschen und einen Koffer und sah vermutlich aus wie eine Touristin, die sich verlaufen hat. Zeit, zu meinem Auto zurückzukehren. Ich hob den Koffer an und drehte mich schwungvoll um. Schlecht für die Frau, die hinter mir gestanden hatte, denn sie kriegte den Koffer vor das Schienbein. Es war bewundernswert, wie es ihr gelang, ihren Schmerzensschrei nur ganz leise auszustoßen.
»Tut mir furchtbar leid«, sagte ich zerknirscht. »Haben Sie sich sehr wehgetan?«
»Es geht«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnenund bückte sich, um einen Stapel Blätter aufzusammeln, die sie vor Schreck hatte fallen lassen.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte ich und ging
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