Alles auf dem Rasen
Karusselle.«
Die Worte verbreiten eine unverantwortliche Traurigkeit. Aufbauen. Zerlegen. Weiterziehen. Wehmut kann man erzeugen, indem man in New York herumsitzt und sich nach der Beschaulichkeit eines deutschen Provinzstädtchens sehnt. Aber man kann auch an seinem Heimatort herumsitzen und sich nach der weiten Welt da draußen verzehren. Das Ziehen im Bauch bleibt das Gleiche. Jeder Schritt, den wir tun oder unterlassen, wird begleitet vom leisen Getrappel unendlich vieler Schritte, auf die wir für immer verzichten. Leben ist ein permanentes Vergehen und erhält seinen Rhythmus von der Hintergrundmusik des Wunsches nach Dauerhaftigkeit. Wir können einer Heimat zustreben oder der Fremde, wir können der Melancholie die verschiedensten Namen geben – festhalten wird uns nichts von alldem. In jedem Fall müsste es der Anstand gebieten, ein existentielles Verlorensein nicht mit den Privilegien zu verwechseln, für die einige unserer Vorfahren jahrhundertelang gekämpft haben und um die uns neun Zehntel der Welt beneiden. Man sollte gewonnene Freiheit nicht als verlorene Heimat beklagen.
In meiner Herkunftsstadt habe ich kaum noch Freunde. Das spart Marathontreffen zu Weihnachten und an Geburtstagen, wenn ich meine Mutter besuche. Was mir niemals erspart blieb, war die Katze. Ich ertrug ihre Freude nicht, wenn sie erst meine Stimme, dann meine Schritte und schließlich meinen Geruch erkannte. Ich ertrug es nicht, wie sie entsetzt zurückwich, sobald der Hund dazwischenging. Ich ignorierte sie, verbot mir, sie anzusehen, auf ihr Schnurren zu hören, das sich quietschend überschlug, wenn ich ihr flüchtig über den Kopf streichelte. Ich tätschelte den Hund, vor dem sie schließlich in die hintersten Winkel des Hauses floh. Fliegende Bauten. Sie tauchte wieder auf, wenn wir abgereist waren. Ich war immer froh, dem Gedächtnis der Katze zu entkommen. Vor zwei Jahren ist sie in hohem Alter gestorben. Die Erinnerung an sie wohnt noch immer als winziges Körnchen Schmerz in der Mitte meines Körpers, dort, wo sie am liebsten gelegen hat. Ihre Nachfolgerin war drei Tage alt, als ich sie in den Straßen von Sarajevo fand. Heute reist sie auf der Autorückbank zwischen zwei Hunden und findet sich in jedem Hotelzimmer, in jeder neuen Wohnung zurecht, sobald ihr Klo mit Streu und die Schüssel mit Futter gefüllt ist.
Vielleicht haben wir eines Tages keine Lust mehr, uns wie Zirkuszelte zu benehmen. Dann werden wir einen Ort suchen, an dem wir bleiben. Auch das würde ich nicht die Wiedererrichtung einer verlorenen Heimat nennen. Sondern die Gründung eines Hauptquartiers.
2003
Die Lehre vom Abhängen
E s war einmal ein Ideal. Mann und Frau, zwei vom Schicksal füreinander bestimmte Hälften, treffen aufeinander, lernen sich lieben, und wenn sie nicht gestorben sind …
Inzwischen klingt das anders. Man kann es nachlesen in all den buntbebilderten Heftchen, in denen die Menschheit sich heutzutage ihre Geschichten über sich selbst erzählt. Der Mensch, frei geboren, liegt endlich nicht mehr in Ketten! – Gemeint ist vor allem der westliche, weibliche, am besten junge, ledige und kinderlose Mensch. Männlein und Weiblein haben sich losgesagt vom Korsett herkömmlicher Beziehungsvorstellungen. Überkommene Rollenverteilungen, lebenslange Treueschwüre, Geschlechterkampf, biologische Uhren, Monogamie, Chauvinismus, Feminismus, Küche, Kinder, Kirche und überhaupt die ganze gute, altmodische Familie gehören – ebenso wie ihre Widersacher – auf den Müll. Das heißt nicht, dass man keine Beziehungen eingehen und keine Familien gründen dürfte. Es heißt nur, man habe es auf eine erwachsene Art zu tun.
Wenn eine meiner Freundinnen erzählt, sie führe jetzt eine wahrhaft erwachsene Beziehung mit ihrem neuen Macker, weiß ich sogleich, was gemeint ist. Zwei eigenständige, unabhängige, selbstbewusste Wesen haben zueinander gefunden. Sie begegnen sich von Gleich zu Gleich, sie können den anderen lieben, weil sie gelernt haben, sich selbst zu mögen. Ihrem Zusammensein liegt eine freie Entscheidung zugrunde. Alles, was sie gemeinsam tun, beruht auf Freiwilligkeit, denn es ist keineswegs so, dass man seine Unabhängigkeit aufgeben muss, nur weil man einen Partner oder eine Partnerin an seiner Seite hat. Im Gegenteil – geteilte Freiheit ist doppelte Freiheit! So stellt es beispielsweise kein Problem dar, wenn einer von beiden für ein paar Monate ins Ausland muss. Soll man wegen einer Beziehung, die doch ein
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