Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
Patrick große Sorgen bereitete; Colleen hatte nicht unter Stimmungsschwankungen gelitten; Colleen hatte sich für eine natürlich Geburt entschieden und so weiter und so fort.
Wäre Colleen eine hundsgewöhnliche noch lebende Exfrau oder Exfreundin gewesen, hätte Ellen sich jedes weitere Wort über sie verbeten. Aber Colleen war tot. Und da es völlig verständlich war, dass Ellens Schwangerschaft in Patrick Erinnerungen an Colleens Schwangerschaft mit Jack heraufbeschwor, und da Colleen Jacks Mutter war und er zu gern Geschichten über die Zeit hörte, in der er im Bauch seiner Mutter heranwuchs, hatte Ellen das Gefühl, dass sie nicht nur aufmerksam zuhören, sondern Patrick geradezu ermutigen sollte, weitere Geheimnisse aus dem Leben der scheinbar vollkommenen Colleen preiszugeben, indem sie ihm mit aufgeweckter, liebevoller, Anteil nehmender Miene Fragen stellte.
Und offen gesagt machte sie das schlichtweg wahnsinnig.
Sie liebte Jack, und ihr gefiel der Gedanke, dass er der große Bruder ihres Kindes sein würde, aber sie konnte nicht umhin, sich auszumalen, wie es wohl wäre, wenn ihr Baby auch für Patrick das erste Kind wäre, wenn es nur sie beide gäbe, die voller aufgeregter Vorfreude der Geburt ihres Kindes entgegensahen.
Die Übelkeit machte die Sache nicht besser. Sie hatte gewusst, dass die Übelkeit schlimm werden konnte, sie hatte nur nichtgedacht, dass es so unangenehm würde. Natürlich hörte es irgendwann auf, das war ihr schon klar, aber das änderte nichts daran, dass dieses schreckliche flaue Gefühl des Unbehagens ständig im Hintergrund lauerte. Wenn sie daran dachte, wie es sein würde, ihr Baby in den Armen zu halten, fragte sie sich im nächsten Augenblick, wie sie sich denn um ein Kind kümmern sollte, wenn ihr übel war.
»Sie liegt dort hinten in der Ecke«, sagte Patrick.
Jack rannte voraus. Patrick blieb stehen und berührte Ellen an der Schulter.
»Alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?«
Er sah ihr in die Augen. Er tat das manchmal, wenn sie es am wenigsten erwartete. Er hielt inne in dem, was er gerade tat, und sah sie mit seinen grünen Augen so eindringlich an, als wartete er darauf, dass sie ihm etwas von entscheidender Bedeutung mitteilte. Das rührte sie jedes Mal zutiefst.
»Ja, alles bestens.« Sie wollte nicht, dass er sich wegen ihrer Übelkeit sorgte und sie zum Auto zurückbrachte oder was auch immer.
»Bist du sicher? Ist dir kalt?«
»Nein, alles in Ordnung.«
»Gut. Es ist dort oben.«
Sie gingen weiter, vorbei an einem Grab nach dem anderen; einem ausgelöschten Leben nach dem anderen. Ellen war zwar gelegentlich über einen Friedhof geschlendert, hatte aber noch nie das Grab eines Verwandten oder Bekannten besucht. Ihre Großeltern waren eingeäschert und die Asche von ihrem Lieblingsplatz oben auf den Klippen ins Meer gestreut worden. Ellen hatte natürlich um sie getrauert, aber auf leise, verhaltene, resignierende Art; sie empfand nicht den schweren Kummer, der mit dem viel zu frühen Tod eines Menschen einhergeht. Sie war einfach traurig, weil sie ihre Großeltern vermisste. Sie war fünfunddreißig geworden, ohne dass der Tod sich jemals mit bestürzender Unvorhersehbarkeit in ihr Leben gedrängt hatte.
Auf einem der Gräber lagen frische Blumen. Ob sie von dem älteren Paar stammten, das ihnen entgegengekommen war?
Ellen blieb kurz stehen und las die Inschrift auf dem Grabstein. Es war das Grab eines Jungen namens Liam, der 1970 geboren und 1980 gestorben war. Sie schaute zum Parkplatz zurück. Das Paar war im Begriff wegzufahren, Ellen konnte das Profil der Frau gerade noch durch das Fenster erkennen.
Sie ging weiter. In ihrem Magen begann es zu brodeln. Ihr Mund füllte sich mit Speichel. In diesem Moment war ihr alles egal, Patricks Fürsorglichkeit ebenso wie der Kummer dieser armen Frau. Jetzt zählte nur noch eines: die Übelkeit, diese grauenvolle, grauenvolle Übelkeit.
Endlich blieben Patrick und Jack vor einem glänzenden grauen Grabstein stehen, in dessen oberer Hälfte ein ovaler Rahmen mit einer Schwarz-Weiß-Aufnahme von Colleen eingearbeitet war. Sie lächelte (für Patrick?), den Blick vom Fotografen abgewandt, die Augen voller Zärtlichkeit.
Zum ersten Mal wurde Ellen mit der unabänderlichen Tatsache von Colleens Tod konfrontiert. Diese wunderschöne junge Frau dürfte nicht tot sein. Sie sollte gemeinsam mit Mann und Sohn zu ihren Eltern in die Berge fahren und ihr zweites Kind erwarten.
Oder, besser noch, sie sollte
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