Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
Donnern wieder zusammenkrachte.
Deshalb fühlte sich eine Trennung an, als würde man bei lebendigem Leib gehäutet. Im Grunde war es seltsam, dass die meisten mit Würde und Anstand damit umgingen und nicht mehr Menschen so wie Saskia reagierten.
»Guten Morgen!« Ein älteres Paar kam ihr entgegen, forschen Schrittes und mit beachtenswertem Armeinsatz. Ellen beschleunigte ihr Tempo. Sie konnte sich doch nicht von zwei Greisen beschämen lassen.
Ihre Großeltern hatten hier jeden Abend vor den Sechs-Uhr-Nachrichten ihren Strandspaziergang gemacht. DreiundsechzigJahre hatten sie miteinander verbracht. Dreiundsechzig Jahre neben demselben Menschen im selben Schlafzimmer aufwachen, in genau dem Schlafzimmer, in dem sie und Patrick sich in der vergangenen Nacht geliebt hatten. Was sie im Nachhinein betrachtet ganz furchtbar fand. Ellen stellte sich nämlich gern vor, dass sich die Geister ihrer Großeltern immer noch im Haus aufhielten. Wenn das wirklich so war, hatte ihr armer Großvater sich bestimmt, den Blick verlegen abgewandt, hinter dem Vorhang versteckt.
Ellen hatte immer angenommen, dass sie jung heiraten und eine Ehe wie ihre Großeltern führen würde. Ihrer Einschätzung nach war sie der Typ dafür. Konservativ und nett. Als ob nette Mädchen immer nette Jungs fänden. Als ob Nettigkeit alles wäre, was eine stabile, dauerhafte Beziehung brauchte.
Wenn sie ehrlich war (und ihr permanentes Streben war das Erlangen wahrer Selbsterkenntnis), so lag ihr Problem weniger in ihrer Nettigkeit begründet als vielmehr darin, dass sie ihrer Meinung nach kein bisschen wie ihre Mutter war, die Ellen ganz allein, ohne einen Mann in der Nähe, großgezogen hatte.
Und dennoch war sie mittlerweile fünfunddreißig Jahre alt und suchte im Internet nach einem passenden Partner. Leider hatte sie, sooft sie die Website anklickte, das Gefühl, etwas irgendwie Unangemessenes zu tun. Unangemessen für sie . Das war der Knackpunkt. Für die breite Masse war es durchaus in Ordnung, im Internet auf Partnersuche zu gehen, aber sie war diejenige, die anderen half, ihr Privatleben in den Griff zu bekommen, sie durfte nicht selbst Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Genau das war es. Sie dachte, sie sollte eigentlich alles über das Leben zu zweit wissen und selbst die perfekte Beziehung führen.
Aber warum sollte ausgerechnet sie nicht gelitten und Liebeskummer gehabt haben? Warum sollte ausgerechnet sie keine Probleme gehabt haben, den Richtigen zu finden? Warum sollte ausgerechnet ihr das Ticken ihrer biologischen Uhr kein Kopfzerbrechen bereiten, so klischeehaft das auch sein mochte? Warum sollte ausgerechnet sie nicht dem Klischee entsprechen?
Ellen schämte sich für ihre Verschämtheit. Zur Strafe ging sie sehr offen mit ihrem Single-Status um. Sie erzählte jedem, der es hören wollte, dass sie im Internet Männerbekanntschaften suchte. Sie ging hoch erhobenen Hauptes mit positiver Grundeinstellung und aufgeschlossener Gesinnung zu jedem neuen Date und ertrug tapfer die ersten Begegnungen trotz eigener Befangenheit.
Aber zuweilen war das wirklich harte Arbeit.
Als Ellen die kleine Felsenbucht erreichte, wo sie immer umkehrte, blieb sie stehen und stemmte schnaufend die Hände in die Hüften. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell sie gelaufen war.
Sie schaute zurück auf das Haus ihrer Großeltern, das jetzt ihr Haus war. Der verglaste Anbau funkelte in der Morgensonne wie ein Diamant. »Wunderbar. Jetzt ist es vollends verschandelt«, hatte ihre Mutter beim Anblick des Anbaus gesagt, den Ellens Großvater hatte anfertigen lassen, ebenfalls dank Großtante Marys Lottogewinn.
Mary, die jüngere kinderlose, unverheiratete Schwester von Ellens Großvater, hatte im Lotto eine halbe Million Dollar gewonnen und war nur sechs Wochen später gestorben, als sie noch überlegte, was sie mit dem unverhofften warmen Regen anfangen sollte. (Vielleicht einen neuen Fernseher kaufen, einen dieser Flachbildschirme? Andererseits würden sich die Quizsendungen deshalb nicht ändern, oder? Sie würden bloß größer aussehen.) Ellens Großeltern hatten alles geerbt und von dem Geld den verglasten Anbau und die neue Gasheizung finanziert und sich jährlich eine zehntägige Kreuzfahrt gegönnt. Der Lottogewinn hatte sie auch dazu veranlasst, ihr Haus Ellen zu vererben, während das Kapital an Ellens Mutter und an Amnesty International gegangen war. Auf diese Weise waren alle zufrieden. Ellens Mutter hatte nie den Wunsch verspürt, in ihrem
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