Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
schämen müsste?
»Ich werde Ihnen gleich ein paar Kekse holen«, sagte Millie.
»Ich hatte mir welche für die Fahrt hergerichtet, aber dann habeich sie daheim liegen lassen. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen solche Umstände mache«, stammelte Ellen nervös, als verlangte sie etwas geradezu Unverschämtes.
Im Grunde entschuldigte sie sich dafür, dass sie überhaupt da war, so unpassend lebendig und schwanger, und den Platz einer Toten einnahm.
»Als ich mit Colleen schwanger war, habe ich den ganzen Tag lang trockene Kekse geknabbert«, sagte Millie und reichte ihr einen Teller mit Gebäck. »Colleen kannte das gar nicht, als Jack unterwegs war. Ihr war nie übel.«
Sie lächelte ihren Enkel an. »Du warst so ein braves Baby, sogar als du noch gar nicht auf der Welt warst. Was nicht heißen soll, dass Ihr kleines Baby nicht brav wäre«, fügte sie an Ellen gewandt hinzu.
Bei Millies Worten fiel Ellens Blick auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Es zeigte Colleen, die den etwa sechs Monate alten Jack in den Armen hielt. Sie sah ihn lächelnd voll inniger Liebe an, während Jack abwesend auf dem Bein eines Spielzeughäschens herumkaute.
Da passierte es.
Ellen brach urplötzlich in Tränen aus, verschluckte sich an ihrem Keks und musste so sehr husten, dass die Krümel nach allen Seiten stoben. Patrick, Jack, Frank und Millie starrten sie völlig verblüfft an.
Was ist denn in dich gefahren? Es war, als hätte ihr Körper sich total danebenbenommen, als hätte sie unüberhörbar Winde abgehen lassen. Hör sofort auf damit , befahl sie sich, aber sie konnte nicht. Die Tränen strömten ihr nur so übers Gesicht.
Alles kam zusammen: der Ausdruck glühender, bedingungsloser Liebe auf Colleens Gesicht, die wohltuende Wirkung des Kekses, die behagliche Wärme im Haus nach dem frischen Wind draußen, Millies Worte »Ihr kleines Baby«, ihr Unwohlgefühl nach dem seltsamen Besuch auf dem Friedhof, die Tatsache, dass sie am folgenden Tag zum ersten Mal ihrem Vater begegnen würde. Ellenwusste selbst nicht, was genau ihren Ausbruch verursacht hatte, sie wusste nur, dass ihre Emotionen sie noch nie in eine derart peinliche Situation gebracht hatten.
»Aber, aber«, sagte Frank tröstend. Er kam zu ihr, ging auf seinen langen Spinnenbeinen vor ihr in die Hocke und rieb ihr mit sanften kreisförmigen Bewegungen über den Rücken. Ellen beneidete Colleen um diesen liebevollen, reizenden Vater.
»Was hast du denn, Ellen?«, fragte Jack.
Er hatte seinen Vater angesehen, aber Patrick war keine Hilfe. Er machte ein fassungsloses Gesicht wie ein Mann, dessen Freundin gerade eine unersetzliche Vase zerbrochen hat. Von dem Augenblick an, da er das Haus betreten hatte, hatte er ununterbrochen geredet, im Plauderton zwar, aber mit einer leichten Panik in der Stimme, so als versuchte er einen Selbstmörder davon abzuhalten, von einer Klippe zu springen, indem er bis zum Eintreffen der Polizei möglichst belangloses Zeug auf ihn einredete. Ellen hatte ihn nie zuvor so gesprächig erlebt, sie spürte, dass diese Besuche ihn große Überwindung kosteten. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass ein betretenes Schweigen entstand, in welchem sich der Kummer auf schreckliche Weise hätte Bahn brechen können. Und jetzt hatte sie das Gleichgewicht, das er so verzweifelt aufrechtzuerhalten sich bemühte, empfindlich gestört.
»Entschuldigt«, schniefte sie nach einer Weile. »Es tut mir so leid. Das müssen die Hormone sein.«
Hormone, Hormone, Hormone. Sie redete von nichts anderem mehr. Dabei hatte sie nie daran geglaubt, dass man seinen Körper für sein Verhalten verantwortlich machen konnte. Ihrer Meinung nach funktionierte die Verbindung Verstand – Körper genau andersherum: Der Verstand beeinflusste den Körper, nicht umgekehrt. Hätte eine Patientin ihr dieses irrationale Benehmen geschildert und dann ihren Hormonen die Schuld daran gegeben, hätte Ellen (in ruhigem, belehrendem Ton) ihr erklärt: »Ich vermute eher, dass Ihr Körper versucht, Ihnen eine Botschaft von Ihrem Unterbewusstsein zu übermitteln.«
Patrick hatte sich endlich so weit von seinem Schock erholt, dass er zu ihr ging und sie in seine Arme nahm.
»Du bist wahrscheinlich nur erschöpft von der langen Fahrt«, sagte er.
Er klang wieder so wie immer, und vor lauter Erleichterung, seine Arme um sich zu spüren und seinen vertrauten Duft einzuatmen, hätte sie fast erneut zu weinen angefangen.
»Tut mir so leid«, sagte sie mit zitternder
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