Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
vielleicht eine Tasse Tee?«
Es wäre albern gewesen, sie darauf hinzuweisen, dass ich nicht mal die Stiefmutter war. Wir waren ja nicht verheiratet.
Jack hat immer Sas zu mir gesagt, weil Patrick mich so nannte. Jeden Abend, wenn ich zu ihm ging und ihm Gute Nacht sagte, hat er seinen Schnuller herausgenommen (er war fast vier, als wir ihm das Schnullerlutschen endlich abgewöhnt hatten – wir waren viel zu nachgiebig gewesen) und genuschelt: »Hab dich lieb, Sas«, und dann hat er seinen Schnuller schnell wieder in den Mund gesteckt. Und mir war jedes Mal zumute, als müsse mir vor Glück gleich das Herz zerspringen.
Jack war mehr, als ich mir je erhofft hätte, mehr, als ich mir je erträumt hätte.
In jener Nacht, als er den Asthmaanfall hatte, ging schon die Sonne auf, als wir wieder nach Hause durften. Statt ihn in sein Bettchen zu legen, habe ich ihn mit in unser Bett genommen, und wir waren beide so erschöpft, dass wir auf der Stelle einschliefen. Als ich aufwachte, war Patrick wieder da. Er stand am Bett und betrachtete uns mit einem Ausdruck voller Zärtlichkeit und Liebe und Stolz, und er sagte: »Hallo, Familie.« Ich werde diesen Gesichtsausdruck niemals vergessen.
Zwei Jahre später, drei Wochen nach Jacks Einschulung, sagte Patrick: »Ich glaube, es ist vorbei.«
»Was ist vorbei?«, fragte ich fröhlich. So unerwartet kam es, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. Von einer Fernsehserie? Oder vom Sommer?
Er meinte uns. Es war vorbei mit uns.
6
Beim zurückgewiesenen Stalker handelt es sich oft um einen früheren Lebenspartner, der getrieben wird von einer komplexen, gefährlichen Mischung aus dem Wunsch nach Versöhnung einerseits und dem Verlangen nach Rache andererseits?!! (Rache wofür? Was hat er ihr getan?)
H ANDSCHRIFTLICHE N OTIZ VON E LLEN O’F ARRELL BEIM G OOGELN NACH »B EWEGGRÜNDE FÜR S TALKING «
Es gab keine weiteren »Mikroausdrücke« mehr, oder wenn doch, dann hatte Ellen sie übersehen. Ihre Zweifel verflüchtigten sich wie Kerzenrauch.
Die ersten beiden Juliwochen waren in diesem Jahr märchenhaft: strahlend blaue Wintertage, so knackig und frisch wie saftige Äpfel. Es war das perfekte Wetter für eine neue Beziehung, perfekt zum Händchenhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, perfekt für jene Art von Benehmen, die an Liebeskummer Leidende zum Weinen bringt und alle anderen nur genervt die Augen verdrehen lässt.
Ellen sammelte Erinnerungen: ein bemerkenswerter Kuss, am Museum für zeitgenössische Kunst wie Teenager an eine Backsteinmauer gepresst; ein Sonntagsfrühstück in einem Café, wo sie Patrick so zum Lachen brachte, dass sich die anderen Gäste nach ihnen umdrehten; ein beschwipstes Romméspiel, das im Bett geendet hatte; ein riesengroßer Blumenstrauß mit einer Karte, auf der stand: Für mein Mädchen , als sie vom Yoga nach Hause gekommen war.
Sie hatten ihre Vorsicht im Umgang miteinander abgelegt.
»Allmächtiger«, entfuhr es Patrick, als er Ellen das erste Mal ein gigantisches Steak verdrücken sah.
»So etwas sagt ein braver katholischer Junge aber nicht«, sagte Ellen.
»Ich habe den Namen des Herrn nicht missbraucht. Ich wollte damit ausdrücken: Allmächtiger, schau dir bloß mal an, was diese Frau isst! Ich dachte, meine Kleine sei eine durchgeknallte vegane Hippiebraut und keine blutrünstige Fleischfresserin.«
»Red nicht so viel, iss! Sonst schnapp ich mir dein Steak auch noch.«
Von Saskia hatten sie eine ganze Weile nichts gehört, was Ellen, die jede freie Minute genutzt hatte, sich mit dem Verhalten von Stalkern vertraut zu machen, jetzt zur Sprache brachte.
»Vielleicht habe ich sie verjagt«, meinte sie dann.
»Wer weiß.« Patrick tätschelte ihr liebevoll besorgt den Arm, wie ein Arzt als Reaktion auf einen todkranken Patienten, der sagt: »Vielleicht werde ich ja die Ausnahme von der Regel sein.«
Die Worte »ich liebe dich« begannen durch Ellens Gedanken zu geistern wie eine Zeile aus einem Schlager, den sie nicht mehr aus dem Kopf bekam. Irgendwo, wahrscheinlich in so einer blöden Illustrierten, hatte sie einmal gelesen, dass man als Frau auf keinen Fall zuerst »ich liebe dich« sagen dürfe. Das war das Dümmste, Sexistischste, Abergläubischste, was sie je gehört hatte. Aber andererseits eilte es ja auch nicht. Sie kannten sich erst seit sechs Wochen. Der richtige Augenblick würde schon noch kommen.
Ellen ließ ihre bisherige »Ich-liebe-dich«-Geschichte an
Weitere Kostenlose Bücher