Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
ernsthaft daran zu glauben, dass sie ihnen diese Antwort geben konnte. Mitgefühl durchflutete Ellen wie eine kleine Schockwelle. Seine heroische Lässigkeit an jenem ersten Abend, als er ihr von seiner Stalkerin erzählte, war nur gespielt gewesen.Das erkannte sie jetzt. Natürlich war er traumatisiert – er war ein Stalking-Opfer! Wie unglaublich unsensibel von ihr, dass ihr dieser Gedanke nie zuvor gekommen war. Sie hatte sich so sehr für Saskia und ihre Motive interessiert, dass sie keinen einzigen Gedanken an die möglichen Folgen für Patrick verschwendet hatte. Als ob nur Frauen zu echten Emotionen fähig wären. Als ob Männer eine weniger komplexe Lebensform wären.
»Bitte entschuldige«, sagte sie. »Als ich dir all diese Fragen über Saskia gestellt habe, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie der letzte Mensch ist, über den du reden willst. Ich meine, das alles setzt dir doch zu – es kann ja gar nicht anders sein. Das muss doch … tja, ich weiß nicht, wie es ist, woher auch?«
Patrick sah ihr unverwandt in die Augen. Sein Blick wollte ihr etwas mitteilen, etwas sehr Komplexes. Vielleicht hatte er seinen eigenen kleinen Satori.
Er beugte sich vor. Sie beugte sich auch vor. Gut. Er wollte sie an seinen Gefühlen teilhaben lassen. Ihre Beziehung würde eine neue Ebene erreichen, eine tiefere, spirituellere, intellektuellere Ebene.
»Sollen wir uns für ein paar Minuten nach oben verdrücken?«, flüsterte er.
»Ich denke, gleich wird er mir etwas Tiefsinniges, Bedeutungsvolles anvertrauen, und er denkt nur an einen Quickie! Und das, obwohl sein Sohn da ist, bloß ein paar Meter von uns entfernt! Sex war das Letzte, woran ich in diesem Moment gedacht habe!«
»Sex ist immer das Erste, woran Männer denken«, belehrte Madeline ihre Freundin Ellen.
Ellen telefonierte von ihrem Arbeitszimmer aus und sortierte nebenbei Unterlagen. Dem Zischen und Klappern nach zu urteilen, stand Madeline in der Küche, wahrscheinlich mit einer geblümten Schürze über ihrem schon leicht gerundeten Bauch, und kochte vermutlich irgendein elegantes Gericht aus Bioprodukten. Madeline erwartete ihr zweites Kind, und die Schwangerschaft hatte sieaufblühen lassen. Sie und Ellen hatten sich vor gut zehn Jahren eine Wohnung geteilt; damals hätte sich Madeline halb totgelacht, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie eines Tages eine geblümte Schürze tragen würde.
Ellen hätte ja Julia angerufen, aber deren Interesse an Patrick hatte sich im Lauf der Zeit ein wenig abgekühlt. Bereits vor ihrer Scheidung war Julia die Sorte Freundin gewesen, die man eher anrief, wenn es nicht so gut lief, und nicht dann, wenn alles eitel Sonnenschein war. Nun, da Patrick ganz offiziell Ellens »fester Freund« war, schwang ein Hauch Verachtung in Julias Stimme mit, sooft Ellen von ihm sprach. Es sei denn, es hatte irgendetwas mit seiner verrückten Exfreundin zu tun – Julia liebte es, wenn Ellen ihr von Saskia erzählte. Nicht, dass sie Ellen ihr Glück nicht gegönnt hätte, sie fand nur, dass es über Glück nicht so viel zu sagen gab.
Madeline hingegen war die Sorte Freundin, die regen Anteil nahm und ein überaus mitfühlendes Wesen besaß, aber in Krisenzeiten hoffnungslos unfähig war. Sie geriet in Panik und wechselte sofort das Thema, wenn jemandes tränenerstickte Stimme auch nur ein ganz klein wenig bebte.
»Das ist nicht wahr«, widersprach Ellen ihr jetzt. »Das ist bloß eines dieser Klischees. Ich kenne Männer, die nie an Sex denken. Jedenfalls kam mir in diesem Moment der Gedanke, dass ich ihn nicht nur als Mann, sondern als Person, als Mensch sehen muss.«
»Nur weil er Sex wollte, heißt das noch lange nicht, dass er kein Mensch ist.«
Madeline verstand offensichtlich nicht, worum es ihr ging.
»Schon, aber mit seinem Sohn im Zimmer nebenan?«
»Nun, wenn du vorhast, mit ihm zusammenzuziehen, wirst du dich daran gewöhnen müssen.«
»Warten Eltern denn nicht damit, bis die Kinder schlafen?«
»Sag mal, ging es bei dieser Geschichte nicht in erster Linie darum, dass er ein komisches Gesicht gemacht hat?«
»Ja, genau. Ich habe sein verlockendes Angebot also abgelehnt,und daraufhin nahm sein Gesicht so einen seltsamen Ausdruckan, und ich glaube, es war ein schmollender Ausdruck.«
»Was heißt, du glaubst?«
»Na ja, es ging alles so schnell. Diese Spezialisten, die sich auf das Entlarven von Lügen verstehen, nennen es einen ›Mikroausdruck‹, glaube ich. Danach war er so wie immer. Wir hatten
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