Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
rücksichtsvoll. Früher, als Jack noch klein war und wir ihn bei ihr gelassen haben, war sie hinterher immer ziemlich erschöpft. Er konnte sie problemlos um den Finger wickeln. Jetzt ist er acht, da wird er nicht mehr so anstrengend sein. Vermutlich kann er sich ganz gut allein beschäftigen, fernsehen oder was auch immer. Hoffentlich lässt Patrick ihn nicht zu viel fernsehen. Ich hoffe, er liest gern. Früher hat er seine Bücher geliebt. Ich weiß noch, wie ich einmal herausfinden wollte, wie oft ich ihm Die kleine Raupe Nimmersatt vorlesen könnte, bis es ihm zum Hals heraushing. Nach dem fünfzehnten Mal gab ich es auf. Kaum hatte ich die Geschichte zu Ende gelesen, sagte er eifrig: »Noch mal?« Ich sehe heute noch seine kleinen roten Pausbäckchen vor mir, wie er in seinem roten Thomas-die-Lokomotive-Schlafanzug auf meinem Schoß saß, die Lippen vor Anspannung gespitzt, während er seine Finger in die Löcher steckte, die die kleine Raupe in die Äpfel gefressen hatte.
Ich hätte heute Abend auf Jack aufpassen können. Das wäre schön gewesen. »Bis später!«, hätte ich Patrick und Ellen fröhlich zurufen können, wie ein jugendlicher Babysitter mit Jack auf dem Sofa unter eine Decke gekuschelt, mir eine Tüte Chips mit ihm teilend.
Vielleicht sollte ich Patrick eine Textnachricht schicken und ihm den Vorschlag machen. Hahaha!
Ich hätte Jack schon seit Jahren babysitten können. Manchmal denke ich, dann wäre alles anders gekommen – wenn Patrick Jack, meinen kleinen Jungen, meinen geliebten kleinen Jungen, nicht aus meinem Leben gerissen hätte.
Ich weiß noch, wie eine der Mütter, die ich aus Jacks Vorschule kannte, mich anrief, als sie von unserer Trennung erfuhr, und sagte: »Das kann er Ihnen nicht antun, Saskia. Das verstößt doch bestimmt gegen das Gesetz. Sie haben doch sicherlich Rechte. Sie sind Jacks Mutter.«
Dummerweise nicht, nicht seine richtige Mutter. Nur die Freundin seines Vaters. Das interessiert kein Gericht der Welt. Eine Beziehung, die drei Jahre gedauert hat. Die ersten zwölf Monate habe ich offiziell nicht mal bei den beiden gewohnt.
Drei Jahre sind nicht besonders lang, aber die Zeit war lang genug, um mitzuerleben, wie Jack aus den Windeln herauskam, wie er schwimmen und Klopf-klopf-Witze erzählen und mit Messer und Gabel umgehen lernte. Lang genug, um mitzuerleben, wie er seine Babylocken verlor und sein Haar glatt wurde. Lang genug, um erleben zu dürfen, dass er nach mir rief, wenn er schlecht träumte. Nach mir, nicht nach seinem Daddy. Er rief immer nach mir.
Sooft ein gellender Schrei mich aus dem Schlaf riss, war ich schon auf halbem Weg durch den Flur getorkelt, bevor ich noch richtig wach war. Einmal, als ich zu ihm eilte, saß er aufrecht im Bett, rieb sich die Augen und schluchzte herzzerreißend. »Ich wollte doch nur die Kerzen auspusten!«, schluchzte er. Und ich sagte: »Schon gut, puste sie einfach aus«, und tat so, als hielte ich ihm eine Torte hin. Er blähte seine Wangen auf und pustete, und das war’s, Problem gelöst. Er lächelte mich mit tränennassen Augen an, legte sich hin und schlief sofort wieder ein. Patrick hatte nichts davon mitbekommen, er erfuhr es erst am nächsten Tag.
Inzwischen dürften Jacks Albträume nicht mehr so süß und einfach sein.
Genau das ist der Punkt. Wann überschreitet man die Grenze von der Babysitterin zur Mutter? Wenn man nur einen Abend auf ein Kind aufpasst, wird man selbstverständlich nicht plötzlich seine Mutter, nur weil man es gebadet und gefüttert hat. Das Gleiche gilt für eine Woche. Oder einen Monat. Aber was, wenn man sich ein ganzes Jahr um ein Kind gekümmert hat? Zwei Jahre? Drei? An welchem Punkt überquert man die unsichtbare Trennungslinie? Oder gibt es gar keine außer der gesetzlichen, die man durch das Unterzeichnen der Adoptionspapiere überschreitet? Pflegekinder können jederzeit, selbst nach Jahren noch, von ihren leiblichen Eltern zurückgefordert werden.
Ich hätte Jack adoptieren sollen. Das war mein Fehler. Aber der Gedanke ist mir nie gekommen.
Ich habe es als Privileg, als Geschenk empfunden, mich um Jack kümmern zu dürfen. Das war ein weiteres wundervolles Teilchen meiner Beziehung zu Patrick.
Als er mir den Laufpass gab, wusste ich, dass ich Jack würde aufgeben müssen wie alles andere, was ich an Patrick so geliebt hatte: seine geäderten Handrücken, ich liebte seine Hände – seine Handschrift zum Beispiel, er hatte eine wunderschöne Handschrift für einen
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