Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
einplanen, überall früher vor Ort sein, Staus und Verspätungen einkalkulieren. Die Zeiten sind vorbei, wo ich abends nach einem Vortrag in München noch nachts heimgefahren bin. Der Terminkalender weist jetzt Pufferzeiten auf.
Im Frühjahr war ich in Wien zu einer Besprechung mit meinen osteuropäischen Kollegen und kam per Bahn relativ knapp auf dem neuen Flughafenbahnhof in Frankfurt an. Oben auf der Brücke zum Terminal stehen die ersten Quick-check-in-Automaten. Ausweis scannen, ID -Nummer eingeben und schon hat man sein Ticket und kann direkt zum Gate eilen. Aber das ist ein langer Weg. Ich stand unter Spannung und zitterte bei der Eingabe der Daten so heftig, dass ich Fehlermeldungen bekam und die Zeit bis zum Boarding davonrannte. Eine außergewöhnlich freundliche Mitarbeiterin der Fluggesellschaft sah meine Hilflosigkeit und erledigte in Sekunden meinen Check-in. Ich schob verlegen ein zaghaftes »Parkinson« hinterher, damit sie mich nicht für einen Trinker hielt. Sie war der Engel des Tages.
An einem Sonntagmittag fuhr ich nach einem Predigtdienst in der Nähe von Aschaffenburg auf der A45 zurück nach Marburg. Ich sehnte den Mittagsschlaf herbei, drehte die Musik kräftig auf und positionierte den Tempomat auf gepflegte 150 km/h. Irgendwann überholte mich ein Polizeifahrzeug und winkte mich raus. Sie lotsten mich auf einen Parkplatz und fragten freundlich, warum ich Schlangenlinien fahren würde. Ich, Schlangenlinien? Nie und nimmer!
Der Stresspegel trieb die Tremorfrequenz nach oben. Die Polizisten sorgten sich um mich. Ob sie einen Arzt holen sollten, ob ich etwas getrunken hätte und wo ich herkommen würde. Ich erklärte ihnen die Ursache des Zitterns und berichtete vom Gottesdienst, in dem ich heute gepredigt hatte. So, so …! Ob ich zu viel vom Messwein getrunken hätte? Die Lage entspannte sich. Nein, erstens sei ich evangelisch und zweitens feiere die Gemeinde das Abendmahl mit Traubensaft. Das war dem offenbar katholischen Beamten nun doch verdächtig. Über was ich denn gepredigt hätte. Nachdem ich zitternd weit ausholte, den Textabschnitt und den ersten Gliederungspunkt nannte, winkte er ab, wünschte mir eine gute Fahrt und ich ihm einen gesegneten Sonntag. Liebe Pastorenkollegen, solltet ihr mal in diese Verlegenheit kommen: Einfach die letzte Predigt vortragen, dann lassen die Ordnungshüter von euch ab.
Aber im Ernst: Ich sollte in der Mittagszeit wachsam sein. Der Sekundenschlaf schleicht sich hinterrücks an. 20 Minuten Rast, ein kleines Schläfchen, eine Tasse Espresso und erst dann wieder auf die Piste.
2011 wurde ich um einen Beitrag zur Jahreslosung 2012 gebeten. Zu den Autoren dieses Andachtsbuches gehörten Katrin Göring-Eckardt, Nikolaus Schneider, Günter Beckstein, Margot Käßmann, Hermann Gröhe und einige andere aus Kirche und Politik. Ich habe gern zugesagt, denn das war doch mein existenzielles Thema: »Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« Es sollte ein Mutmacherbeitrag werden. Kurz nach dem Erscheinen wurde das Buch auf einem christlichen Kongress vorgestellt. Der eifrige Kongressbuchhändler hatte ausgerechnet den traurigsten Teil meines Artikels als Leseprobe vorgetragen. Er hätte auch die überwiegend zuversichtlichen Aussagen rezitieren können. Das Buch ging weg wie selbst bestrichene Butterbrezeln.
In den Tagen darauf bekam ich eine Reihe besorgter Anrufe und Mails. Ein alter Pastor schrieb mir voller Fürsorge so herzerweichend, als müsse er mich auf die letzte Reise vorbereiten. Er wähnte mich offenbar bereits auf der Bahre. Die fromme Post liebt dramatische Neuigkeiten. Ich habe ihm humorvoll vermittelt, dass es mir gut gehe und ich heute Abend noch einen trockenen Rotwein der Lage »Westhofener Bergkloster« zu verkosten und eine gepflegte Zigarre zu rauchen gedenke. Das hat ihn wieder beruhigt.
Noch etwas aus der Kiste, die ich nur mit Humor öffnen kann.
»Tja, das tut mir leid für dich, aber ich kann deine Geschichte nachvollziehen. Meine Oma hat auch Alzheimer!« Das war so ziemlich das Heftigste, was ich mir bei einem Arbeitsessen mit einem Bekannten anhören musste, nachdem ich ihm eine halbe Stunde von Parkinson erzählt hatte. Ich konnte nur noch spöttisch reagieren: »Alzheimer? Hast du wirklich so schnell vergessen, dass ich von P. und nicht von A. gesprochen habe?« Und wenn einer anfängt, er könne meine Situation »nachvollziehen«, dann werde ich immer hellhörig und lasse mir berichten, was an
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