Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
mitspielen zu müssen. Ich war mir ganz sicher, dass ihre lüsternen Blicke meiner neuen Jugendlichkeit ebenso geschuldet sein würden wie meinem tiefen Dekolletee.
Als ich an diesem Abend auf der Bühne stand und für fremde Männer sang, malte ich mir, animiert durch mein gestrafftes Selbstbewusstsein, aus, wie ich Carsten später verführen würde.
»Heut ist der Tag aller Tage, es steht außer Frage, dass ich dich überrasche und sinnlich vernasche. Die Dessous, die ich trage, sind erste Spitzenware, meine glattrasierten Beine fühl’n sich an wie weiche Seide. Alles nur für dich, mein Tiger, mein Frauenbesieger. So tanz ich ins Zimmer, mein gestählter Don Juan, du Bild von einem Mann – so steh ich vor dir!«, sang ich und stellte mir dabei meinen Geliebten vor. Nackt! Ich träumte von zwei wild ineinander verschlungenen, schwitzenden, jugendlichen Körpern. Carsten und ich wie in unseren besten Anfangszeiten: hemmungslos, gierig und unersättlich.
Als ich gegen 23 Uhr euphorisch über unseren Hof lief, musste ich feststellen, dass bei Carsten kein Licht brannte und er auch nicht in meiner Wohnung auf mich wartete. Also war er bereits im Bett. Kurz darauf saß ich in meiner Wohnküche und war irgendwie … gar nicht frustriert. Ich schlürfte meinen Sänger-und-Redner-Tee mit Honig, zündete mir eine Zigarette an und wunderte mich, dass mich die Tatsache, heute keinen Sex mehr zu haben, gar nicht ärgerte. Eigentlich war ich ziemlich müde und geschafft. Vielleicht hatte meine Mutter ja recht. Sie behauptete doch immer: »Ab einem bestimmten Alter, Tati, ist Sex nicht mehr so wichtig!«
Prinzen und Idole
Eigentlich sollte die Botox-Behandlung nur ein halbes Jahr wirken. Diese Zeit ist jetzt, nach Carstens Unfall, um, und ich schaue jeden Tag mit der Angst in den Spiegel, dass meine Stirn wie ein Plisseerock zusammenfällt, dass Schlupflider und Zornesfalte in alter und vielleicht sogar verstärkter Form zurückkehren. Aber bis jetzt ist nichts dergleichen passiert. Auch während der Autofahrt zum Neurologen schaue ich in den Rückspiegel. Keine Regung oberhalb der Augenbrauen. Meine Stirn ist glatt wie ein Kinderpopo. Ich schiele nach rechts. Mein wortkarger einarmiger Bandit hockt mit auf dem Kopf abgelegtem Arm auf dem Beifahrersitz und kümmert sich nicht um meine Stirn.
»Ah, pass doch auf! Hier sind Huckel auf der Straße!«
Ich reduziere mein Tempo auf zehn Stundenkilometer. Ich bin ja kein Tierquäler.
Eine halbe Stunde später haben wir unser Ziel erreicht. Beim Neurologen Doktor Schulz ist das Wartezimmer voll. Das kann ja heiter werden. Carstens Blick verfinstert sich beim Anblick der wartenden Versehrten so sehr, dass ich mir wünsche, er hätte ein Anti-Aggressions-Training absolviert.
»Da müssen wir durch, Süßer, aber danach wird alles gut. Doktor Schulz ist ein erfahrener Arzt!«, beruhige ich ihn und mich.
Ich greife mir einen Stapel bunter Zeitschriften und setze mich. Carsten bleibt demonstrativ stehen und legt seinen Arm auf den Kopf. Ich kann ihn nicht ansehen, ohne mich wie in einem Paternoster zu fühlen, und konzentriere mich darum auf meine Zeitschriften. Als ich nach zehn Minuten wieder aufschaue, steht der missmutigste aller missmutigen Patienten immer noch im Eingang des Wartezimmers und stiert frustriert auf einen Fleck im Teppich.
»Ks, ks!«, zische ich ganz leise und klopfe, als Carsten gequält aufblickt, auf die Sitzfläche des Stuhles neben mir. Er zieht den Mund angeekelt in die Breite, was ich als Ablehnung werte. Wehmütig betrachte ich den Mann an der Tür, der nur noch wenig Ähnlichkeit mit meinem Traumprinzen hat.
Als ich Carsten vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal traf, hatte ich eine dreijährige Odyssee auf verschiedensten Internet-Single-Plattformen hinter mir. Meine anfängliche jugendlich-naiv wirkende Schwärmerei war durch die vielen Männer, denen ich bei meiner Suche begegnet war, durch unzählige Dates und wenige One-Night-Stands, abgeklungen. Die durchlittenen Enttäuschungen und Fehlgriffe verboten mir jeden Optimismus. Ich glaubte, dass sich weder im »richtigen Leben« noch im virtuellen Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein Prinz für mich finden würde, und fragte mich, welcher mit klarem Verstand und ansehnlicher Lebenserfahrung ausgestattete Mann eine Comedy-Tussi wie mich haben wollte.
Meine Selbstzweifel hatten sich ins Unerträgliche gesteigert, und ich war, kurz bevor ich meinen Traumprinzen traf, bereits so
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