Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
und räumlich begrenztem Radius. Statt mir jetzt meine eigenen Grenzen zu setzen, mich auf mich und meine Fähigkeiten zu besinnen, verliere ich mich im Staunen, Träumen und Warten auf das bessere Angebot. Die neue Freiheit hat ihren Preis.«
Alus Worte bringen mich ins Nachdenken. Was unterscheidet mich von meiner Schwester? Warum hatte ich mich in der unendlich großen, neuen Welt nicht verirrt? Vielleicht, weil meine Mama mir als der Älteren von uns beiden schon immer die Verantwortung für mich und meine Schwester übertragen hatte. »Pass auf deine kleine Schwester auf!« und »Tati, du schaffst das schon« wurde mir ständig eingetrichtert. Sollte es heute wirklich von Vorteil sein, dass mir diese Sätze immer noch wie ein Mantra durchs Hirn geistern, gaben sie mir gar das nötige Selbstvertrauen, mein Leben optimistisch und verantwortungsvoll in die Hand zu nehmen, und die Disziplin, mich nicht in Träumereien zu verlieren? Eigentlich hatte ich jahrelang unter diesem moralischen Druck gelitten. Ich hasste es, Vorbild zu sein und nicht schwach sein zu dürfen.
Und als ob Alexandra meine Gedanken hören könnte, fährt sie fort: »Weißt du Tati, mir ist klar geworden, dass ich deswegen so an EQUI geklammert habe, weil ich mich nur gut fühlen konnte, wenn er mich gut fand. Das ist wie eine Sucht!«»Meinst du, das könnte auch bei mir der Grund dafür sein, dass ich unbedingt heiraten will?«
»Das weiß ich nicht. Bisher dachte ich immer, dass deine Abhängigkeit von Männern im Zusammenhang mit deinen Verlustängsten steht!«
»Welche Verlustängste?«
»Eigentlich musst du einen Psychologen fragen, aber wenn du es unbedingt von mir hören willst, bitte. Ich glaube, dass du Angst hast, verlassen zu werden. Schon immer! Das hat mit Selbstachtung zu tun. Mein Psychologe hier in der Klinik sagte, dass nicht andere, also Männer oder große Schwestern zum Beispiel, der Gradmesser meiner Zufriedenheit sein sollten, sondern ich selbst. Ich hatte die Fähigkeit verloren, Bedürfnisse zu äußern und mich an mir selbst zu erfreuen. Es geht um Liebe, Liebe zu sich selbst.«
Wie klar und logisch sich das anhörte! Ich werde ganz melancholisch bei ihren Worten. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass das Leben so einfach sein soll. Meine kleine Schwester! Da nimmt sie mir mit ein paar Sätzen die ganze Last der Verantwortung von den Schultern und gibt mir trotzdem das Gefühl, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Und wenn ich ihre Erkenntnisse weiterspinne, können sie auch für mich sehr wichtig sein. Wie viele Jahre hatte ich nichts anderes als meinen Beruf im Kopf: Ich wollte erfolgreich sein, um jeden Preis, und besser als Corinna! Ich habe geschuftet, gelernt, und meine Beziehungen sind auf der Strecke geblieben. Dass ich, seit ich meinen Traummann kenne, instinktiv nicht mehr jede Mugge und jedes Angebot annehme und mehr Zeit in unsere Partnerschaft statt in meine Karriere investiere, hat mir bisher immer ein schlechtes Gewissen beschert. Ich fühlte mich bei dem Gedanken, nichts zu tun, nicht wohl.
Wenn ich jetzt Alexandras Erkenntnisse mit meinen Erfahrungen verbinde, muss ich mir zwar eingestehen, ein altes Auto zu sein, kann dafür von jetzt an mehr Pflege und Ruhepausen besser rechtfertigen. Früher war ich ein Ferrari, der auf geraden Autobahnen in Höchstgeschwindigkeit durchs Leben fuhr. Heute bin ich ein älterer Twingo, der Schlaglöcher meiden muss, damit der Auspuff ganz bleibt und nicht röhrt.
Alu ist jetzt zur großen Durchsicht, wird bald mit frisiertem Motor und ruhig laufendem Getriebe wieder nach Hause kommen, und ich nehme mir vor, bis dahin bei mir ebenfalls mit der Umprogrammierung der Elektronik zu beginnen.
***
Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe und die Schweißfußtapsen, die Chica auf meinem Glastisch hinterlässt, mit Küchenpapier und kreisenden Bewegungen zu beseitigen versuche, kreisen meine Gedanken um das Wort »Verlustängste«. Ich erinnere mich an einen Abend mit Carsten, den ich damals erst wenige Wochen kannte, an dem er mir eine selbstgeschriebene Geschichte zeigte.
»In emotionalen Augenblicken und Lebensphasen schreibe ich meine Befindlichkeiten und Gedanken in Gedichten und Kurzgeschichten auf«, flüsterte er mir ins Ohr.
Wir saßen beide hintereinander auf dem Bürostuhl. Mein Traummann hatte die Arme um mich geschlungen, und ich las seine Erinnerungen an die Zeit, als er seine Lebensgefährtin verließ.
Ich las von seinen Ängsten, ihr sagen zu müssen,
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