Alles bestens
ins Gesicht wie Nieselregen. Eine Amsel sang, vielleicht war es auch schon die Nachtigall. Das Mädchen legte den Kopf schräg, als warte sie auf etwas. Ich schaute dem Pferd auf die Beine.
»Ungarisches Vollblut?«
Sie lächelte.
»Ein bisschen Araber ist bestimmt auch mit drin?«
Ihre Zähne standen ein wenig auseinander. Zwischen den Schneidezähnen war eine Lücke. Im Gesicht keine Schminke. Leute, ich fasste es nicht! Eine echte Sandra, und ein Gebiss mit Ecken und Kanten, Schiefstand und Lücken!
Ich ließ meine ganze Pferdekenntnis raus, aber sie sagte immer noch nichts. War sie stumm? Oder war das etwa ihre Therapie-Reitstunde? Pferde helfen ja bei allen Macken, man muss nur wissen, wie man mit ihnen umzugehen hat, dann fressen sie einem aus der Hand. Das habe ich mal im Wartezimmer meiner Mutter gelesen. Außerdem wollte ich früher Cowboy werden, kenn mich persönlich aus mit Pferden, hatte mal eine Zehnerkarte in der Reitschule Grunewald, aber ich bin kein Cowboy geworden und Macken habe ich auch keine.
Sie hatte einen Schnuller um den Hals, als Kettenanhänger, einen grünen, mit blauen Entchen. Ich kam mir sehr klein vor, ich stand da und schaute zu ihr hinauf, wie sie zu mir herabblickte, und ich wusste, es ist Sandra, Sandra III , Göttin der Vollkommenheit, auf einem Löwen reitend, mir Kraft und Wissen, Handeln und Weisheit für mein weiteres Leben bringend. Der Himmel hatte sie mir gesandt, im allerletzten Augenblick, bevor ich im Treibsand der ewigen Baustelle verschwinden sollte.
Das Pferd schnaubte.
»Was ist los mit dir?«
Das waren ihre ersten Worte. Zuckerwürfel sprangen aus ihrem Mund und vergruben mich. Ich wühlte mich frei, ringend nach Worten.
»Nichts«, sagte ich, meine Stimme sehr tief legend, aber die Stimme wollte nicht tief liegen. Sie wurde immer leiser, besonders als ich hinzufügte: »Das ist ja mein Problem.«
»Würde ich eher als Chance sehen«, sagte sie und stieg vom Pferd, ließ die Zügel hängen – wie ein verdammter Cowboy –, ohne dass der Gaul wegrannte. Dann flüsterte sie ihm noch was ins Ohr, der Gaul nickte und kratzte dreimal mit dem Vorderhuf. Bestimmt konnte er auch rechnen.
Ich versuchte zu grinsen, aber es ging nicht. Als ich so dastand, knietief im Sand, mit dem klugen Pferd und Sandra III vor mir, war mir alles andere als zum Lachen zumute. Ich wusste überhaupt nicht mehr weiter. Sandras Blick verzauberte mich, machte mich klein wie ein Sandfloh. Ich spürte genau, wie mir sechs Beine wuchsen. Ich wäre gern gesprungen, egal wohin, einfach damit Bewegung ins Spiel kam.
Der Wind wehte, die Sonne schien und aus der Ferne wieherte es. Irgendwo, weit hinter uns, musste es noch einen verdammten Gaul geben, der rechnen konnte. – Das dachte ich in dem Moment und war enttäuscht von mir, weil ich nicht mal grinsen konnte.
Das Pferd suchte mit den Ohren das ferne Wiehern, es blähte die Nüstern und prustete, dass die Unterlippe vibrierte. Erst da merkte ich, dass ich weinte. Leute, ich sag es nicht gern, aber mir tropften die Tränen nur so von den Wangen. Meine Mutter wäre entzückt gewesen und hätte mir alle möglichen Fragen gestellt für ihren neuen Vortrag: »Der moderne, weinende Mann«, und ich hätte jede Menge Fragebogen ausfüllen müssen, solche, in denen immer ein paar Fragen dieselben sind: Wie oft in der Woche haben Sie Geschlechtsverkehr?, Wie oft onanieren Sie am Tag? – meine Mutter würde in ihrem Kumpelton sagen: »Die Fragen kannst du überspringen«, und sich den Finger anlecken, damit sie besser umblättern kann, ohne mich dabei ansehen zu müssen.
Das Mädchen stand neben dem Pferd und legte eine Hand auf meinen Arm.
»Komm«, sagte sie. »Wir gehen ein bisschen spazieren.«
Wir stakten durch den Sand und ich schaute auf meine nackten Füße. Der Tränenfluss war zum Glück versiegt, dafür hatte ich meine Flip-Flops vergessen, aber das Mädchen war auch barfuß. Ihre Füße waren dreckig, wie die von Oliver Twist. Immer wenn sie einen Fuß aufsetzte, spreizte sie den kleinen Zeh. Sie hatte sehnige Waden und runde Knie. Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht.
»Ärger mit deinen Alten?« Ich spürte ihren Blick auf meinem Che-Guevara-Shirt.
Ich schüttelte den Kopf. Mann, war ich froh, dass ich wenigstens eine Jeans anhatte und nicht mehr mit Unterhose durch die Gegend lief!
»Mit den Kumpels?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Schule?«
Wer glaubt, dass ich eine anständige Verneinung
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