Alles bleibt anders (German Edition)
anderen weiter. Vielleicht ist Ihre Absicht auch weniger, die Identität Frank Millers anzunehmen, als Ihre eigene erfolgreich abzulegen. Was haben Sie aus Ihrem Vorleben zu verbergen?«
Statt einer Antwort, summte Frank eine Melodie.
Claire wurde bleich.
»Ich erinnere mich an den Leierkastenmann, der hinter dem Fotografen stand und an jeden Takt des Liedes, das er gespielt hat.«
Claire schüttelte den Kopf: Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte!
»Wieder ist es der Verstand, der Sie leitet«, sprach Frank offen aus. »Dem meinen kann ich nicht vertrauen. Er gibt mir Informationen, die nicht zusammen passen, Tatsachen, die sich widersprechen, Bilder und Töne aus meiner Vergangenheit, die mir gehören und gleichzeitig einem anderen.«
Seine Stimme wurde eindringlicher.
»Claire«, nannte er sie zum ersten Mal bei ihrem Vornamen, »irgendwie muss das Ganze doch einen Sinn ergeben. Helfen Sie mir! Bitte!«
Und Claire spürte, dass seine Verzweiflung nicht gespielt war und dass alles viel verzwickter war, als sie gehofft hatte.
»Also gut, ich werde meinen Teil dazu beitragen, Ordnung in Ihre Gedanken zu bringen, und in die meinen.«
»Die ersten Tage und Wochen nach dem Zeitpunkt, als ich im Leichenschauhaus war, verschwimmen in meinen Gedanken. Wie oft ich mich in mein Zimmer eingesperrt hatte, wie lange ich weinend auf meinem Bett gelegen hatte, ich weiß es nicht mehr. Spaziergänge mit meiner Mutter, Gespräche mit meinem Vater: alles war vergebens. Besuche bei Franks Eltern und der Tod von Franks Vater machten alles nur noch schlimmer. Ich sehe immer noch das offene Grab vor mir, mit den beiden Särgen, die hinab gelassen wurden, doch wer die Trauernden waren, sehe ich nicht. Mir wurden Hände geschüttelt von einer diffusen schwarzen Masse und immer wieder stach dieser Spaten in den Boden, um die Erdbrocken aufzunehmen und sie hinunter auf den Sargdeckel zu stoßen. Dumpfe Töne. Rosen, die hinterher geworfen wurden.«
Frank, der zunächst taktvoll nach unten geblickt hatte, sah vorsichtig zu Claire hinüber.
»Nein«, deutete sie seinen Blick. »Ich habe keine Tränen mehr. Vielleicht habe ich damals alle herausgeweint, die ich hatte. Irgendwann waren sie versiegt. Der Schmerz blieb.«
Sie atmete tief durch.
»Zu welchem Zeitpunkt Dieter in mein Leben trat, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich ging alleine spazieren und er hat mich einfach angesprochen. Ein Zufall habe ihn, genau wie mich, in den Park geführt, sagte er später; vielleicht war es auch die Vorsehung. Er erkannte mich, ich ihn nicht. Sehr rücksichtsvoll und herzlich sprach er mir sein Beileid aus und erzählte mir, dass er ein guter Freund von Frank war, und wie sehr er ihn vermisse. Er war ein Mensch, der unbefangen und sachlich blieb, wo Franks Mutter uneinsichtig und verbittert reagierte, obwohl sie beide – genau wie ich – die gleiche Trauer zu empfinden schienen. Seinen Beistand nahm ich dankend an und die Treffen mit ihm wurden häufiger. Auch als ich lernte, mit meinem Verlust zu leben, blieb er bei mir. Und mehr als zwei Jahre nachdem die große Liebe meines Lebens um meine Hand angehalten hatte, war ich frei, einem anderen Mann mein Herz zu öffnen. Mein Leben hatte endlich seinen notwendigen Halt wieder gefunden …«
Vorwurfsvoll führte sie den Satz zu Ende: »…und da tauchen Sie auf!«
Frank ließ sich Zeit für eine Entgegnung. »Ich habe es mir nicht ausgesucht.«
»Ich weiß.«
Und mit diesen zwei Worten war Frank klar, dass sie ihn nicht länger für einen Hochstapler hielt. Ein erstes Zeichen für ihre Bereitschaft, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.
Kurz legte er seine linke Hand auf Claires rechte, die neben ihm auf der Sitzfläche ruhte, und zog sie rasch wieder zurück, ehe sie das gleiche mit der ihren tun konnte.
»Ich habe heute Mittag Jakob Levy getroffen«, lenkte er schnell ab.
»Oh, wie geht es ihm? Ich habe oft an ihn gedacht, in all den Jahren …«
»Eigentlich gut«, und er lachte. »Abgesehen von der Tatsache, dass ihm heute ein Gespenst über den Weg gelaufen ist …«
Das erste Lächeln auf Claires Lippen machte Frank sehr glücklich.
»Er wird die Begegnung mit dem Gespenst überleben, denke ich«, fuhr Frank fort. »Ich werde ihn wiedersehen. Er ist Arzt an der Charité, ebenso wie Ihr Mann. Wie es scheint, hat er einen nicht ganz so steilen Aufstieg hingelegt.«
»Dieter hat mir gar nicht erzählt, dass er mit ihm zusammen arbeitet.«
»Jakob ist nicht in der Chirurgie.«
Frank
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