Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
ist, herrscht hier, und daran wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern, die abenteuerlichste Verwirrung, denn es ist längst unmöglich, mit einer gewissen Objektivität zu unterscheiden, was es heißt, Talent zu haben oder eben nicht, was schön ist und was hässlich, welches Werk etwas Neues darstellt, das überdauert, und was nur als Irrlicht leuchtet. Diese Konfusion hat aus der bildenden Kunst einen einzigen Karneval gemacht, in dem wahre Schöpfer, Windhunde und Betrüger sich tummeln, und manchmal ist es schwer, sie voneinander zu unterscheiden – ein beunruhigender Vorgeschmack auf die Abgründe einer an billigem Hedonismus krankenden Kultur, die jede andere Motivation der Unterhaltung zum Pfand gibt. In einem klugen Essay über die haarsträubendsten Verirrungen, die es in der zeitgenössischen Kunst zu besichtigen gibt, erwähnt Carlos Granés Maya »eine der unsäglichsten Performances, an die man sich in Kolumbien erinnert«, eine Aktion des Künstlers Fernando Pertuz, der in einer Galerie vor dem Publikum kackte und dann, »mit großer Feierlichkeit«, seinen Kot verspeiste. 6
Im Bereich der Musik ist das Äquivalent zu Marcel Duchamps Urinal gewiss die Komposition 4’33’’ von John Cage, dem großen Guru der Neuen Musik in den USA, bei deren Uraufführung 1952 sich ein Pianist ans Klavier setzte, aber vier Minuten und dreiunddreißigSekunden lang keinen Ton spielte, da das Werk allein aus den Geräuschen besteht, die im Raum durch Zufall und die belustigten oder erbosten Reaktionen der Zuhörer erzeugt werden. Das Bestreben des Komponisten und Musiktheoretikers war es, alle vorgefassten Meinungen, die einen Wertunterschied zwischen Klang, Krach und Geräusch machen, umzustoßen. Was ihm zweifellos gelang.
Auch die Politik hat in der Kultur des Spektakels eine Banalisierung erfahren, eine vielleicht ebenso tiefgreifende wie die Literatur, der Film und die bildende Kunst. Mit ihren Sprüchen, ihren Plattitüden und Frivolitäten, Moden und Ticks hat hier die Werbung fast vollständig den Raum okkupiert, der früher den Argumenten, Programmen und Ideen vorbehalten war. Wenn heute ein Politiker auf der Beliebtheitsskala nicht abrutschen will, muss er sein Augenmerk in erster Linie auf die Gestik und das Äußere richten, sie sind wichtiger als Werte, Überzeugungen und Prinzipien.
Denn Falten, Glatze, graues Haar, das Nasenmaß und die Strahlkraft des Gebisses wie auch die Kleidung sagen ebenso viel, wenn nicht mehr als eine Erklärung, was der Politiker, so er an die Regierung kommt, auf den Weg zu bringen gedenkt. Der Einzug des singenden Models Carla Bruni in den Élysée-Palast als Madame Sarkozy und das Medienfeuerwerk, das ihn begleitete und immer noch nachglüht, sind ein Beispiel dafür, dass nicht einmal Frankreich – das Land, das sich stets rühmte, die alte Tradition der Politik als intellektuelles Geschäft wachzuhalten – hat widerstehen können und ebenfalls der weltweit herrschenden Frivolität erlegen ist.
(Vielleicht sollte ich hier näher erläutern, was ich unter frivol verstehe. Laut Wörterbuch heißt es in seiner ersten Bedeutung leichtfertig, bedenkenlos, aber unsere Zeit hat eben diese Bedeutung mit vielschichtigen Nebenbedeutungen aufgeladen. Das Frivole besteht darin, sich auf einen kopfstehenden oder aus dem Gleichgewicht geratenen Wertekatalog zu stützen, wo die Form wichtiger ist als der Inhalt, der Schein wichtiger als das Sein und wo die Chuzpe und die Attitüde – die Darstellung – an die Stelle von Gedanken und Gefühlen treten. In einem Roman aus dem Mittelalter, den ich bewundere, Tirant lo Blanc , schlägt die Gemahlin des Wilhelm von Warwick ihrem Sohn mit der Hand ins Gesicht, einem erst wenige Monate alten Kind, damit es weint, weil der Vater gen Jerusalem zieht. Wir Leser lachen, sind amüsiert über diesen Unsinn, als könnte jemand die Tränen, die die Ohrfeige dem armen Wurm entlockt, für ein Gefühl von Traurigkeit halten. Aber weder die Gräfin noch die Personen, die der Szene beiwohnen, lachen; für sie ist Weinen – die bloße Form – Traurigkeit. Und es gibt keine andere Art, traurig zu sein, als laut zu weinen – sie brachen »alle in Tränen aus, schluchzten, stöhnten und wehklagten«, heißt es im Roman –, denn was zählt in dieser Welt, ist die Form, ihr haben die Inhalte der Handlungen zu dienen. Das meine ich mit Frivolität: eine Art, die Welt zu verstehen, das Leben, wonach alles Schein ist, also Theater, also Spiel und
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