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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hier und da noch Erben dieser zerbrochenen Utopie, aber es sind kleine Minderheiten und Splittergruppen ohne größere Aussicht auf Zukunft. Die letzten kommunistischen Länder auf Erden, Kuba und Nordkorea, sind zwei Anachronismen, bloße Museumsstücke noch. Und das Venezuela des Comandante Hugo Chávez, der trotz reichlicher Ölreserven mit einer beispiellosenWirtschaftskrise zu kämpfen hat, wird kaum dazu taugen, das kommunistische Modell, das in den sechziger und siebziger Jahren weite Teile der Ersten und der Dritten Welt begeisterte, zu neuem Leben zu erwecken.
    Die Abkehr vom Gesetz hat sich in der Mitte des Rechtsstaats vollzogen, und sie besteht in einer Haltung der Geringschätzung oder Verachtung des Rechtssystems, in einer Indifferenz und moralischen Anomie, die es dem Bürger gestattet, das Gesetz wann immer möglich zu übertreten und zu umgehen, zum eigenen Vorteil, oft aber auch nur, um Missachtung oder Misstrauen zu demonstrieren oder die herrschende Ordnung zu verspotten. Es sind nicht wenige, die im Zeitalter der Unterhaltungskultur Gesetze brechen, um sich zu amüsieren, als wäre es ein Risikosport.
    Die Abkehr vom Gesetz mag auch darin begründet liegen, dass die Gesetze oft nicht im Sinne des Gemeinwohls erlassen werden, sondern zur Durchsetzung von Sonderinteressen; oder sie sind handwerklich so schlecht gemacht, dass die Bürger sich aufgerufen fühlen, sie zu umgehen. Auch wundert es nicht, dass die Steuerzahler, wenn eine Regierung sie mit zu hohen Steuern belastet, in Versuchung geraten, ihren Abgabenpflichten auszuweichen. Schlechte Gesetze widersprechen nicht nur den Interessen des Durchschnittsbürgers, sie beschädigen auch das Ansehen des Rechtssystems und befördern ebendiese Abkehr vom Gesetz, die wie ein Gift den Rechtsstaat zerfrisst. Schlechte Regierungen hat es immer gegeben, und schon immer gab es unsinnige oder ungerechte Gesetze. Aber anders als in einer Diktatur gibt es in einer demokratischen Gesellschaft Möglichkeiten, solche Verirrungen anzuprangern, zubekämpfen und zu korrigieren: den unabhängigen Journalismus, Pressefreiheit, das Recht auf Kritik, Oppositionsparteien, Wahlen, die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, Gerichte. Nur muss das demokratische System, damit dies funktioniert, auch auf das Vertrauen und die Unterstützung der Bürger zählen können, darauf, dass es ihnen bei aller Unvollkommenheit stets verbesserungsfähig erscheint. Die Abkehr vom Gesetz rührt von der Auflösung dieses Vertrauens her, dem Gefühl, dass das System selber faul ist und dass die schlechten Gesetze, die es hervorbringt, keine Ausnahmen sind, sondern eine unvermeidliche, da systemimmanente Folge von Korruption und Vorteilsnahme. Die Entwertung der Politik durch die Kultur des Spektakels führt also geradewegs zu einer Abkehr vom Gesetz.
    Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war, als ich 1966 nach England zog – die sieben Jahre davor hatte ich in Frankreich verbracht – und sah, welch gewissermaßen natürlichen – spontanen, instinktiven und zugleich von der Vernunft geleiteten – Respekt die Bevölkerung dem Gesetz entgegenbrachte. Die Erklärung schien der fest in der Bürgerschaft verwurzelte Glaube zu sein, dass Gesetze im Allgemeinen gut gemacht sind, dass ihr Zweck und ihre Inspirationsquelle das Gemeinwohl ist und dass sie ebendeshalb eine moralische Legitimität besitzen; dass demnach das, was das Gesetz gestattet, richtig und gut ist, und was es verbietet, falsch und schlecht. Es überraschte mich, denn weder in Frankreich, Spanien, Peru oder Bolivien, Länder, in denen ich gelebt hatte, war mir dergleichen Eindruck vergönnt gewesen. Diese Gleichsetzung von Gesetz und Moral ist eine angelsächsische und protestantische Besonderheit, in romanischen Ländern trifft man sie kaum. Hier neigen die Bürger dazu, sich dem Gesetz bestenfalls zu fügen, sie betrachten es weniger als Inbegriff moralischer und religiöser Prinzipien denn als etwas, was ihren Anschauungen zwar nicht zwangsläufig feindselig gegenübersteht oder ganz und gar widerspricht, aber doch fremd bleibt.
    Wie dem auch sei, heute gibt es diesen Unterschied, der für die Viertel, in denen ich in London lebte, noch gegolten hat, wahrscheinlich nicht mehr, denn die Abkehr vom Gesetz hat, zumal durch die Globalisierung, angelsächsische und romanische Länder einander angeglichen.
    Die Grundannahme ist hier, dass Gesetze das Werk einer Macht sind, die keine andere Daseinsberechtigung hat als sich

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