Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
wünschen, als dem Autoritarismus zu entfliehen, der Zensur, der Plünderung, und die endlich in der Moderne ankommen, Arbeit finden und ohne Angst, in Frieden und in Freiheit leben wollen.
Es ist eine selbstlose, idealistische, antiautoritäre, im Volk verankerte und zutiefst demokratische Bewegung, von Beginn an zivilgesellschaftlich und säkular ausgerichtet, und sie wurde weder angeführt noch – zumindest bisher nicht – von den fundamentalistischen Kreisen gekapert, die gerne die Militärdiktaturen durch religiöse Diktaturen ersetzen würden. Um dies zu verhindern, müssen die westlichen Demokratien denen ihre Solidarität und aktive Unterstützung zusichern, die heute in der ganzen arabischen Welt für die Freiheit kämpfen und sterben.
Allerdings dürfen wir uns dabei auch fragen: Wie viele junge Menschen im Westen wären heute wohl bereit, für die demokratische Kultur ein Martyrium auf sich zu nehmen, wie es die Libyer, Tunesier, Ägypter, Jemeniten, Syrer und andere getan haben oder noch tun? Wie viele von denen, die das Privileg genießen, in offenen Gesellschaften zu leben, im Schutz eines Rechtsstaats, würden ihr Leben riskieren, um eine solche Gesellschaft zu verteidigen? Sehr wenige, aus dem schlichten Grund, weil die freiheitlich-demokratische Gesellschaft, auch wenn sie den höchsten Lebensstandard in der Geschichte geschaffen und gesellschaftliche Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung weiter reduziert hat, nicht begeisterte Zustimmung erfährt, sondern von ihren Nutznießernmit Langeweile und Verachtung gestraft wird, wenn nicht mit systematischer Feindseligkeit.
Zu beobachten etwa unter Künstlern und Intellektuellen. Als ich diese Zeilen zu schreiben begann, war in der kubanischen Diktatur ein Dissident, Orlando Zapata, nach fünfundachtzigtägigem Hungerstreik – aus Protest gegen die Haftbedingungen der politischen Gefangenen auf der Insel – gestorben, und ein anderer, Guillermo Fariñas, lag nach wochenlanger Verweigerung der Nahrungsaufnahme auf den Tod. In der spanischen Presse waren in diesen Tagen Beschimpfungen der beiden zu lesen, von einem Schauspieler und einem Sänger, beide berühmt, die sie, die Parolen der karibischen Diktatur aufgreifend, »Verbrecher« nannten. Keiner von ihnen sah in puncto politischer Repression und mangelnder Freiheit den Unterschied zwischen Kuba und Spanien. Wie lässt sich eine solche Haltung erklären? Fanatismus? Ignoranz? Bloße Dummheit? Nein. Frivolität. Die Clowns und Komiker, nun also maîtres à penser , Vordenker der heutigen Gesellschaft, äußern sich als das, was sie sind – wen wundert’s? Ihre Meinungen scheinen von vermeintlich fortschrittlichen Ideen getragen, doch in Wahrheit plappern sie nach einem versnobten Drehbuch der Linken: mit Tamtam und Trara von sich reden machen.
Es ist nicht verwerflich, wenn die größten Nutznießer der Freiheit die offenen Gesellschaften kritisieren, denn Kritikwürdiges gibt es viel; sehr wohl aber, wenn sie dabei Partei ergreifen für jene, die sie zerstören und durch autoritäre Regime ersetzen wollen, wie wir sie aus Kuba oder Venezuela kennen. Der Verrat vieler Künstler und Intellektueller an den demokratischen Idealen istkein Verrat an abstrakten Prinzipien, sondern an Tausenden und Abertausenden von Menschen aus Fleisch und Blut, die unter den Diktaturen Widerstand leisten und für die Freiheit kämpfen. Aber das Traurigste ist, dass diesem Verrat an den Opfern keine Prinzipien und Überzeugungen zugrunde liegen, sondern karrieristischer Opportunismus und dazu passende Posen, Gesten und Provokationen. Viele Künstler und Intellektuelle unserer Zeit sind sehr wohlfeil geworden.
Ein weiterer heikler Aspekt, der die Demokratie schwächt, ist die Abkehr vom Gesetz, auch dies eine Folge der Kultur des Spektakels.
Aber Vorsicht, man darf diese Abkehr nicht verwechseln mit der rebellischen oder revolutionären Haltung jener, die die bestehende Rechtsordnung für unerträglich halten und sie zerstören und durch eine gerechtere ersetzen wollen, denn aus diesem Wunsch spricht immer noch die Hoffnung auf Wandel und die Wette auf eine bessere Gesellschaft. Nur sind mit dem großen Scheitern der kommunistischen Länder, deren Ende der Fall der Berliner Mauer 1989 besiegelte, dem Verschwinden der Sowjetunion und dem Umbau der chinesischen Volksrepublik in ein Land mit kapitalistischer Wirtschaft, aber vertikaler und autoritärer Politik solche Haltungen praktisch ausgestorben. Natürlich gibt es
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