Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
Nachrufe bis zu 15 Seiten – mehr, als gewöhnlich die internationale Politik einnimmt. Auch an diesem Tag stapeln sich auf Stefáns Schreibtisch
wieder Minningars, die bald abgedruckt werden.Nur selten müsse er die Verfasser anrufen und um Änderungen bitten, sagt der Redakteur, etwa wenn sie den Toten oder dessen
Familie beleidigen. Ansonsten gibt es nur zwei Regeln: Sie dürfen nicht zu lang sein, und es sind keine selbst verfassten
Gedichte erlaubt. Früher veröffentlichte die Zeitung sie noch, doch die meisten waren von so fragwürdiger lyrischer Qualität,
dass die Redaktion irgendwann beschloss, diese Form auszuschließen, eine umstrittene Maßnahme im Land mit einer so schreibfreudigen
Bevölkerung. Bereits seit über neunzig Jahren erscheinen in Island die einzigartigen Gedenktexte. Sie waren und bleiben bis
heute ein Porträt der Gesellschaft – kurze moderne Sagas und somit auch Familiengeschichten.
»Manche benutzen in ihren Texten Bilder aus alten Sagas«, sagt Anthropologe Arnar. In einem Nachruf über einen Mann namens
Árni etwa stand zu lesen: »Er war bekannt für seinen Fleiß. Wenn er mitanpackte, war es, als würde er mit drei Schaufeln graben
oder mit drei Hämmern schlagen.« Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als Island noch eine Kolonie Dänemarks und ein armer
Bauernstaat war, beschrieb man gute Männer vor allem als freie und starke Individuen, deren Leidenschaft und Tatendrang gelobt
wurden. Eine gute isländische Frau hingegen war eine selbstlose Mutter, wie diese Verstorbene: »Im Einklang mit ihrer selbstlosen
Art nahm sie Abschied an einem Tag, an dem alle freihatten. So konnten sich alle von ihr verabschieden, ohne ihre Arbeit unterbrechen
zu müssen.« Früher schrieben meist Verwandte und Bekannte die Würdigungen, damals noch ausschließlich in der dritten Person.
Seit 1994 ist es erlaubt, die Nachrufe direkt an den Verstorbenen zu adressieren. Dadurch sind die Erinnerungen emotionaler
und persönlicher. Eine Frau beschreibt zum Beispiel in einem Gedenktext für einen Familienfreund, wie sie als Zehnjährige
die Treffen mit dem warmherzigen Mann genoss und wie er ihrGedichte beibrachte. Die Erinnerungen sind aber nicht nur an die Sonnenseiten geknüpft, selbst der Alkoholismus des Vaters
wird thematisiert. Manchmal fühlt der Leser sich wie ein Voyeur, wenn er diese intimen Briefe liest. Aber sie halten die Gesellschaft
auch zusammen. So kennt man nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten.
Es fällt schwer, die isländische Natur zu beschreiben, ohne dabei pathetisch zu klingen: Die einen sehen in der Vulkaninsel
des Teufels Küche oder ein kahles, gottverlassenes Eiland, die anderen verklären es als magische Elfeninsel oder sagenumwobenes
Land aus Feuer und Eis. Was auch immer man in Island sieht, beide Lager würden wohl bestätigen, dass es eine existenzielle
Erfahrung ist. Bis heute bestimmt hier die Natur, was geht und was nicht: Vielerorts zischt und blubbert es, steigt Dampf
empor oder bricht die Erde auf. Diese Natur lehrt dich, im Hier und Jetzt zu leben, sagen sie. Denn wer weiß schon, was morgen
ist? Ein Erdbeben, ein Schneesturm, ein Vulkanausbruch? Alles kann passieren.
Weil sie das verinnerlicht haben, gehen die Isländer erstaunlich gelassen mit Naturkatastrophen um – das merkte die internationale
Öffentlichkeit auch im Frühjahr 2010, als innerhalb von wenigen Wochen gleich zwei Vulkane ausbrachen und die Asche des Eyjafjallajökulls
den Flugverkehr in halb Europa lahmlegte.
Das Motto der Insulaner: Reg dich nicht über Dinge auf, die du nicht ändern kannst! Schließlich bricht durchschnittlich alle
fünf Jahre ein Vulkan aus, Erdbeben gibt es mehrmals im Jahr, und dass wegen eines starken Wetterumschwungs mal eine geplante
Reise ausfällt, gehört zum Alltag.
Da gilt es den Moment zu nutzen. Und das bedeutet für die abenteuerlustigen Isländer, mit Kind und Kegel so nah wie möglich
an den Feuer speienden Vulkan zu fahren. Die erste Ausbruchstelle lag in der Hochebene Fimmvörðuháls, sie bildet einen Pass
zwischen den Gletschern Eyjafjallajökull und Mýrdalsjökull. Da diese Hochebene nicht von einer dicken Eisschicht bedeckt war,
brachte der Ausbruch die spektakulären Bilder der sprudelnden Lava hervor.
Der Fimmvörðuháls liegt im Süden Islands, rund anderthalb Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Wer wenig Zeit hatte, begnügte
sich mit einem kurzen Abstecher zum
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