Alles Glück kommt nie
großeDebatte und wischt sich den Mund ab: »Egal wie, wir fahren den Karren geradewegs an die Wand!«
So. Jetzt ist es gesagt. Normalerweise wartet er bis zum Espresso, aber heute, Prostataprobleme nehme ich an, ist er etwas früher dran. Gut so. Schnauze jetzt.
Sorry, aber ich bin müde, habe ich gesagt.
Françoise kommt mit dem Fotoapparat zurück, löscht die Lichter, Laurence kämmt sich noch einmal unauffällig die Haare, und die Kinder zünden Streichhölzer an.
»In der Diele brennt noch Licht!«, ruft einer.
Ich opfere mich.
Doch während ich den Schalter suche, fällt mein Blick auf einen Briefumschlag auf meinem Poststapel.
Ein länglicher weißer Briefumschlag mit einer schwarzen Schrift, die ich kenne, ohne sagen zu können, von wem sie ist. Der Poststempel sagt mir nichts. Der Name einer Stadt und eine Postleitzahl, die ich auf einer Landkarte nicht zuordnen könnte, aber eine Schrift, die ...
»Charles! Was machst du denn noch?«, rufen die anderen, während sich der Kuchen zitternd im Fenster spiegelt.
Ich mache das Licht aus und kehre ins Esszimmer zurück. Bin aber nicht mehr bei der Sache.
Sehe nicht Laurence’ Gesicht im Kerzenlicht. Singe beim Happy Birthday nicht mit. Versuche nicht einmal zu applaudieren. Ich – ich bin wie dieser Dummkopf von Proust, nachdem er seine Madeleine gefuttert hatte, nur dass es sich bei mir genau umgekehrt verhält. Ich wehre mich dagegen. Will mich nicht erinnern. Ich merke, wie sich ein Stück vergessene Welt zu meinen Füßen öffnet, ich spüre die Leere an den Fransen des Teppichs und erstarre, taste instinktiv nach dem Türpfosten oder einer Stuhllehne, an die ich mich klammern kann. Weil, ja, ich kenne die Schrift, und irgendwas stimmt hier nicht. Irgendwas in mir widersetzt sich. Irgendwas fürchtetsich schon. Ich suche. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, wird in Schwingungen versetzt und übertönt die Gefühlsäußerungen um mich herum. Ich höre sie nicht schreien, höre nicht, dass ich gebeten werde, das Licht wieder anzumachen.
»Charrr-les!«
Sorry.
Laurence packt die Geschenke aus und Claire hält mir den Tortenheber hin: »He! Was machst du denn da? Isst du im Stehen?«
Ich setze mich, nehme mir von dem Kuchen, versenke meinen kleinen Löff... Stehe wieder auf.
Weil er mir keine Ruhe lässt, schlitze ich vorsichtig den Brief auf, nehme einen Schlüssel zu Hilfe, um ihn nicht aufzureißen. Der Brief ist zweimal gefaltet. Ich klappe den ersten Teil auf, höre, wie mein Herz pocht, dann den zweiten, und wie es aufhört zu schlagen.
Drei Worte.
Ohne Unterschrift. Ohne alles.
Drei Worte.
Ratsch.
Zieht das Fallbeil wieder hoch.
Als ich wieder aufschaue, begegne ich meinem Spiegelbild über der Konsole. Ich hätte Lust, diesen Typ zu schütteln, ihm zu sagen: Mensch, hast du schon wieder versucht, uns mit deinem Proust und seinem Stuss einzulullen? Wo du doch wusstest ...
Stimmt doch, du wusstest es?
Ihm fällt darauf keine Antwort ein.
Er sieht mich an, und weil ich nicht reagiere, flüstert er etwas. Ich höre nichts, aber ich sehe, wie seine Lippen zittern. Etwas in der Art von: Bleib da. Bleib hier bei ihr. Ich gehe zurückzu den anderen. Ich muss, verstehst du, aber bleib du hier. Ich kriege das schon hin.
Er kehrt zu seiner Erdbeertorte zurück. Hört Geräusche, Stimmen, Lachen, nimmt den Sektkelch, den ihm jemand hinhält, stößt lächelnd mit den anderen an. Die Frau, die seit Jahren das Leben mit ihm teilt, umarmt reihum alle am Tisch. Sie umarmt auch ihn. Sie sagt: Sehr schön, danke. Er schützt sich vor diesem Zärtlichkeitsanfall und gibt zu, dass Mathilde sie ausgesucht hat, woraufhin ihm Letztere energisch widerspricht, als hätte er sie verraten. Aber er hat ihr Parfum gerochen, und er hat ihre Hand gesucht, sie ist jedoch schon weitergegangen, umarmt den nächsten. Er hält seinen Kelch noch einmal hin. Die Flasche ist leer. Steht auf, holt eine neue. Lässt den Korken zu schnell kommen. Ein Geysir aus Schaum. Schenkt sich ein, leert seinen Kelch, schenkt sich wieder ein.
»Alles in Ordnung?«, fragt die Frau neben ihm.
»...«
»Was ist denn mit dir los? Du bist ja ganz blass. Man könnte meinen, du hättest ein Gespenst gesehen.«
Er trinkt.
»Charles«, flüstert Claire.
»Nichts. Ich bin todmüde.«
Er trinkt.
Er bekommt Risse. Sprünge. Seine Haut platzt auf. Er will nicht.
Der Lack blättert ab, die Nahtstellen geben nach, die Schrauben lockern sich.
Er will nicht. Er
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