Alles Glück kommt nie
tonloser Stimme fort, den Blick in die Ferne gerichtet, wo sie vorm Fenstereinen Schatten sieht, den es nicht mehr gibt. Es ist ihr egal, ob ihr jemand zuhört: »Einmal, ich weiß noch ... Es war am Anfang. Ich kannte sie kaum, ich hatte ihr eine Grünpflanze geschenkt oder eine Topfblume, ich weiß es nicht mehr so genau. Zum Dank dafür, dass sie Charles eingeladen hatte, vermute ich. Wirklich nichts Besonderes. Eine stinknormale Pflanze, die ich wahrscheinlich vom Markt mitgebracht hatte. Ein paar Tage später, als ich überhaupt nicht mehr daran dachte, hat sie geklingelt. Sie war völlig aufgelöst und gab mir mein Geschenk zurück, drückte es mir gewaltsam in die Arme.
›Was ist?‹, fragte ich besorgt, ›stimmt was nicht?‹ ›Ich – ich kann sie nicht behalten‹, stotterte sie, ›sie – sie stirbt.‹ Sie war kreidebleich. ›Wie meinen Sie das? Die Pflanze sieht doch gut aus!‹ ›Nein, sehen Sie doch. Die Blätter sind ganz gelb geworden.‹ Sie zitterte. ›Ach‹, lachte ich, ›das ist doch ganz normal! Die machen Sie einfach ab, das ist alles!‹ Und daraufhin, das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen, fing sie an zu schluchzen und stieß mich weg, um den Topf neben meinen Füßen abzustellen.
Sie ließ sich nicht beruhigen. ›Entschuldigen Sie bitte, entschuldigen Sie. Aber ich kann nicht‹, schluchzte sie, ›ich kann nicht, verstehen Sie. Ich habe nicht die Kraft dafür. Ich habe keine Kraft mehr. Für Menschen, ja, für die ganz Kleinen, ja, da will ich es gern versuchen. Und manchmal hilft auch das nicht, ich, sie gehen trotzdem weg, wissen Sie? Aber wenn ich diese Pflanze hier sehe, wie sie stirbt, ich ...‹ Ein wahrer Sturzbach. ›Ich kann das nicht. Das können Sie mir nicht antun. So – so wichtig kann das doch nicht sein, verstehen Sie? Ja? So wichtig kann das doch nicht sein.‹
Sie machte mir Angst. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, ihr einen Kaffee anzubieten oder sie hereinzubitten, damit sie sich setzen konnte. Ich sah zu, wie sie sich mit aufgerissenen Augen in den Ärmel schneuzte, und dachte: Die Frau ist verrückt. Total plemplem.«
»Und dann?«, fragte Claire beunruhigt.
»Nichts und dann. Was sollte ich denn machen? Ich habe die Pflanze an mich genommen und zu den anderen ins Wohnzimmer gestellt und vermutlich jahrelang behalten!«
Claire kämpfte mit dem Müllbeutel.
»Was hättest du denn an meiner Stelle getan?«
»Ich weiß nicht«, murmelte sie.
Der Brief. Sie zögerte eine halbe Sekunde, warf dann die Essensreste, die Fettstreifen und den Kaffeesatz auf das, was von Alexis’ Brief noch übrig war. Die Tinte verlief. Sie band die Tüte ganz fest zu, das Bändchen riss. Scheiße Mann, stöhnte sie und warf den Beutel in den Abstellraum neben der Küche. Scheiße.
»Du erinnerst dich doch aber an sie?«, insistierte ihre Mutter.
»Na klar. Gehst du mal ein Stück zur Seite, damit ich hier rüberwischen kann?«
»Und dir ist nie der Gedanke gekommen, dass sie verrückt ist?«, fragte sie und legte ihre Hand auf die von Claire, damit sie eine Sekunde lang innehielt.
Claire richtete sich auf, blies sich eine Strähne aus dem Gesicht und hielt ihrem Blick stand. Dem Blick dieser Frau, die ihr so oft Vorträge über ihre Prinzipien gehalten hatte, ihre Moralauffassung und ihre guten Manieren: »Nein.«
Dann, als sie sich wieder auf die Holzriffelung konzentrierte: »Nein. Das ist mir nie in den Sinn gekommen, stell dir vor.«
»Nicht?«, fragte ihre Mutter ein wenig enttäuscht.
»Ich habe immer gedacht, dass –«
»Dass was?«
»Dass sie hübsch ist.«
Verärgertes Stirnrunzeln: »Natürlich war sie schön, aber davon rede ich nicht, Liebes, ich rede von ihr , von ihrem Benehmen.«
Das ist mir klar, dachte Claire.
Sie spülte den Schwamm aus, trocknete sich die Hände und fühlte sich plötzlich alt. Oder wieder wie ein Kind, das Nesthäkchen.
Was aufs Gleiche herauskam.
Sie küsste die verdutzte Stirn und ging los, um ihren Mantel zu holen.
Von der Diele aus rief sie ihrem Vater ein »Gute Nacht, Papa« zu. Er war in der Nähe geblieben, das wusste sie, und sie zog die Tür hinter sich zu.
Sobald sie im Auto saß, schaltete sie ihr Handy ein, keine Nachricht natürlich, machte das Licht an, warf vorm Anfahren einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass ihre Unterlippe doppelt so dick war wie sonst. Und dass sie blutete.
Dumme Nuss, herrschte sie sich an und biss weiter auf der Stelle herum, an der der Schmerz so eine
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