Alles Glück kommt nie
Dinge respektiert sie noch an mir. Ich wende mich wieder meinem Teller zu.
Die Unterhaltung ist in vollem Gange, mit allem, was an gesundemMenschenverstand und an gesunder Dummheit dazugehört. Vor ein paar Jahren war es die Bastille-Oper oder die Französische Nationalbibliothek, tja, man nimmt die gleichen Zutaten, und schon geht’s wieder los.
Claire, die neben mir sitzt, beugt sich zu mir: »Und was macht Russland?«
»Ich sage nur Beresina«, gestehe ich lächelnd.
»Hör auf –«
»Doch, doch, ich meine es ernst. Ich warte nur auf Tauwetter, um die Toten zu zählen.«
»Scheiße.«
»Ja, tschort , wie sie sagen.«
»Das ist ja blöd, oder?«
»Pff, fürs Büro nicht, aber für mich.«
»Für dich?«
»Ich weiß nicht. Ich bin kein guter Napoleon. Mir fehlt seine – Vision , vermute ich.«
»Oder sein Irrsinn.«
»Ach, der! Das kommt noch!«
»Das meinst du nicht im Ernst, oder?«, fragt sie besorgt.
»Da!«, ich beruhige sie und schiebe meine Hand zwischen zwei Hemdknöpfe, »von diesem Desaster herab verachten mich keine vierzig Jahrhunderte Architektur!«
»Wann musst du wieder hin?«
»Montag.«
»Nein.«
»Doch.«
»Warum so bald schon wieder?«
»Der neueste Coup ist nämlich – halt dich gut fest –, dass die Kräne verschwinden. In der Nacht, ffffft, fliegen sie davon.«
»Das kann nicht sein.«
»Du hast recht. Sie brauchen etwas länger, um ihre Flügel auszubreiten. Vor allem, wenn sie noch die anderen Maschinen mitnehmen. Die Bagger, die Betonmischer, die Bohrmaschinen ... Alles.«
»Du übertreibst.«
»Überhaupt nicht.«
»Und was machst du jetzt?«
»Was ich jetzt mache? Gute Frage. Als Erstes werde ich eine Sicherheitsfirma engagieren, die unsere Sicherheitsfirma überwacht, und wenn die sich dann auch als korrupt entpuppt, werde ich –«
»Wirst du?«
»Keine Ahnung. Dann hole ich die Kosaken!«
»Was für ein Chaos.«
»Du sagst es.«
»Und du managst den Laden?«
»Überhaupt nicht. Da gibt’s nichts zu managen. Nichts. Soll ich dir sagen, was ich mache?«
»Du trinkst!«
»Nicht nur. Ich habe angefangen, noch einmal Krieg und Frieden zu lesen. Und verliebe mich nach dreißig Jahren wieder genauso in Natascha wie am ersten Tag. Das mache ich.«
»So ein Elend. Und sie schicken dir keine wunderschönen Mädchen, damit du dich ein bisschen entspannen kannst?«
»Bisher nicht.«
»Lügner.«
»Und bei dir? Was gibt’s Neues an der Front?«
»Ach, bei mir ...«, seufzt sie und greift nach ihrem Glas, »ich hatte mir diese Arbeit ausgesucht, um unseren Planeten zu retten, und was mache ich heute? Ich verstecke die Scheiße der Leute unter genmanipuliertem Rollrasen, aber davon mal abgesehen, geht’s mir gut.«
Sie lacht vergnügt.
»Und dein Staudamm?«, fragte ich weiter.
»Ist gebongt. Den haben sie verloren.«
»Da siehst du’s.«
»Pff ...«
»Was ›pff‹? Ist doch okay. Enjoy , du auch!«
»Charles?«
»Mmm ...«
»Wir sollten uns zusammentun, weißt du –«
»Und was sollten wir zusammen machen?«
»Die ideale Stadt.«
»Aber wir sind in einer idealen Stadt, meine Liebe, das weißt du genau.«
»Och, trotzdem«, sagte sie und machte einen Schmollmund, »wir brauchen noch ein paar Supermarktfilialen von Champion, oder?«
Bei diesen Worten, pling, die Stimme des Meisters, der alles mitkriegt: »Pardon?«
»Nichts, nichts. Wir haben uns gerade über deinen letzten Kaviar-Probierstand unterhalten –«
»Pardon?«
Claire lächelt ihn an. Er zuckt mit den Schultern und kehrt zu seiner alten Leier zurück, die da lautet: Aber wohin gehen unsere Steuern?
Ach, ich bin plötzlich so müde. Müde, müde, müde, reiche den Käseteller weiter, ohne mir etwas zu nehmen, um Zeit zu gewinnen.
Ich betrachte meinen Vater, der wie stets zurückhaltend, höflich und elegant ist. Ich betrachte Laurence und Edith, die sich Geschichten von verknöcherten Lehrern und linkischen Putzfrauen erzählen, es sei denn, es verhält sich umgekehrt, ich betrachte die Einrichtung dieses Esszimmers, in dem sich seit fünfzig Jahren nichts verändert hat, ich betrachte ...
»Wann gibt’s die Geschenke?«
Die Kinder sind hereingestürmt. Was für ein Segen. Mein Bett ist nicht mehr weit.
»Verteilt frische Teller und kommt dann zu mir in die Küche«, befiehlt ihre Großmutter.
Meine Schwestern stehen auf, um ihre Päckchen zu holen. Mathilde zwinkert mir zu und zeigt mir die Tüte mit unserer Tasche, und Philippe Rockefeller Suchard beendet seine
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