Alles Glück kommt nie
Vergangenheit ödeten sie an. »Und du benimmst dich also plötzlich so daneben, weil die Mutter eines Typs gestorben ist, den du seit vierzig Jahren nicht gesehen hast? Ist das so?«
So war es. Was für eine Gabe sie hatte, Dinge auf den Punkt zu bringen, mit einem Etikett zu versehen, wegzusortieren und zu vergessen. Und wie er das an ihr geliebt hatte. Ihren gesunden Menschenverstand, ihren Schwung, diese Fähigkeit, alles zu entsorgen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Wie er sich all die Jahre daran festgehalten hatte. Wie – bequem es gewesen war. Und wohltuend, vermutlich.
Daran klammerte er sich also wieder. An ihren Schwung, an das Vertrauen, das er bei ihr genoss, um seine Hand an ihrem Oberschenkel entlanglaufen zu lassen.
Dreh dich um, flehte er insgeheim. Dreh dich um. Hilf mir.
Sie rührte sich nicht.
Er schob sein Kopfkissen neben ihrs und drückte sein Gesicht in ihren Nacken. Seine Hand machte sich daran, ihr Nachthemd aufzuwickeln.
Lass los, Laurence. Zeig Gefühl, ich flehe dich an.
»Und was war an dieser Dame so besonders«, scherzte sie, »hat sie leckere Kuchen gebacken?« Er ließ den Stoff los.
»Nein.«
»Hatte sie große Brüste? Hat sie dich auf den Schoß genommen?«
»Nein.«
»Hat sie –«
»Schsch«, unterbrach er sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, »psst, sei still. Es ist nichts. Sie ist tot, das ist alles.«
Laurence drehte sich um. Er war zärtlich, er war aufmerksam, das mochte sie, und es war schrecklich.
»Mmm. So eine Beerdigung bekommt dir gut«, stöhnte sie schließlich und zog die Decke wieder hoch.
Diese Worte erschütterten ihn, und für eine halbe Sekunde war er sicher ... Nein, nichts. Er biss die Zähne zusammen undverscheuchte den Gedanken, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. Stopp.
Sie schlief ein. Er stand wieder auf.
*
Als er den Laptop aus der Tasche holte, sah er, dass Claire mehrmals versucht hatte, ihn anzurufen. Er verzog das Gesicht.
Kochte sich einen Kaffee und setzte sich in die Küche.
Nach ein paar Klicks hatte er ihn gefunden. Schwindelanfall.
Zehn Ziffern.
Nur zehn Ziffern trennten sie voneinander, wo es ihn so viel Verbissenheit, so viele Tage und Nächte gekostet hatte, den Abgrund zu vergrößern.
Das Leben war mitunter schon ein Spaßvogel. Zehn Ziffern bis zum Wählton. Einmal abnehmen.
Aufgeben.
Und wie seine Schwester war auch er grob zu sich. Auf dem Bildschirm bauten sich die Details der Strecke auf, die ihn zu ihm führen könnten. Die Anzahl der Kilometer, die Autobahnausfahrten, die Mautgebühren, der Name eines Dorfes.
Er nahm sein Frösteln zum Vorwand, um seine Jacke zu holen, und da er sie nun schon mal um die Schultern gelegt hatte, holte er gleich seinen Terminkalender heraus. Suchte nach Seiten, die er nicht brauchte, denen des Monats August zum Beispiel, und notierte die Eckpunkte dieser unwahrscheinlichen Reise.
Ja, im August vielleicht? Vielleicht. Mal sehen.
Schrieb ebenso schlafwandlerisch seine Adresse auf. Vielleicht würde er ihm eines Abends ein paar Worte schreiben. Zwei vielleicht, oder drei?
Genau wie er.
Um zu sehen, ob das Fallbeil noch funktionierte.
Aber hätte er den Mumm dazu? Oder die Lust? Oder die Schwäche? Er hoffte, nicht.
Schlug den Kalender wieder zu.
Sein Handy piepte wieder. Er ließ es piepen, stand auf, spülte seine Tasse, kam zurück, sah, dass sie ihm eine Nachricht hinterlassen hatte, zögerte, seufzte, gab nach, hörte sie ab, stöhnte, fluchte, brauste auf, verfluchte sie, ließ sich in die Dunkelheit fallen, nahm seine Jacke und legte sich aufs Sofa.
»In drei Monaten wäre er neunzehn.«
Am schlimmsten war es, dass sie die Worte ganz ruhig gesprochen hatte. Ja, ganz ruhig. Einfach so, mitten in der Nacht, nach dem Piepton.
Wie konnte man so etwas zu einer Maschine sagen? So etwas denken?
Gefallen daran finden?
Er wurde von einem Wutanfall gepackt. He, Mann, was sollte dieses melodramatische Gehabe?
Wir ziehen den Stecker, Alte, ziehen den Stecker.
Er rief zurück, um sie anzuschnauzen.
Sie nahm ab. Du bist lächerlich. Ich weiß, antwortete sie. »Ich weiß.«
Und die Sanftmut ihrer Stimme nahm ihm den Wind aus den Segeln.
»Was immer du zu mir sagst, Charles, es ist mir nicht neu. Du brauchst mich nicht zu schütteln und auch nicht auszulachen, das kann ich selbst. Aber mit wem kann ich sonst darüber reden? Wenn ich eine gute Freundin hätte, würde ich sie jetzt wecken, aber – du bist meine beste
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