Alles Glück kommt nie
nein. So war das Leben. Die nächste Runde.
»Wie spät ist es?«, fragte er gähnend.
Sie hatte sich abgewandt und kehrte schon wieder in ihr Zimmer zurück.
»Mathilde ...«
Sie blieb stehen.
»Es ist nicht so, wie du denkst ...«
»Ich denke gar nichts«, antwortete sie.
Und verschwand.
6.12 Uhr. Er schleppte sich zur Kaffeemaschine und nahm die doppelte Menge. Der Tag würde ziemlich lang werden.
Fröstelnd schloss er sich im Bad ein.
Eine Pobacke auf dem Badewannenrand, das Kinn gegen die Hand gepresst, ließ er seinen Gedanken in den Wasserblasen und dem lauwarmen Dampf freien Lauf. Was ihn im Moment ganz und gar beschäftigte, ließ sich in wenigen Worten zusammenfassen: Balanda, du nervst. Hör auf und reiß dich zusammen.
Bis jetzt warst du immer in der Lage, ohne groß nachzudenken, deinen Weg zu finden, du wirst nicht heute mit dem Nachdenken anfangen. Es ist zu spät, verstehst du? Du bist zu alt, um dir den Luxus eines solchen Debakels leisten zu können.
Sie ist tot. Sie sind alle tot. Lass den Vorhang runter und kümmere dich um die Lebenden. Hinter dieser Wand befindet sich ein Meißner Porzellanpüppchen, das einen auf ›mich kann nichts schocken‹ macht, aber ziemlich angeschlagen zu sein scheint. Das für sein Alter viel zu früh aufsteht. Stell den verdammten Wasserhahn ab und zieh ihr für eine Minute die Stöpsel aus den Ohren.
Er klopfte leise an und setzte sich auf den Boden, ihr zu Füßen, den Rücken an den Bettpfosten gelehnt.
»Es war nicht so, wie du meinst.«
»...«
»Wo bist du gerade, meine redliche Freundin?«, flüsterte er, »schläfst du? Hörst du unter der Decke traurige Lieder oder fragst du dich, was der gute alte Charles schon wieder von dir will?«
»...«
»Ich habe nur deshalb auf dem Sofa geschlafen, weil ich einfach nicht einschlafen konnte. Und deine Mama nicht stören wollte.«
Er hörte, wie sie sich umdrehte, und etwas von ihr, vielleicht ihr Knie, berührte ihn an der Schulter.
»Und während ich dir das erzähle, denke ich, dass es ganz verkehrt ist. Weil ich mich dir gegenüber nicht rechtfertigen muss. Das alles geht dich nichts an, oder vielmehr, es betrifft dich nicht. Es ist eine Sache zwischen großen Leuten, äh – Erwachsenen und ...«
Und Scheiße, Mann, dachte er, in was verwickelst du dich da gerade? Red mit ihr über was anderes.
Er hob den Kopf und inspizierte im Halbdunkel die Wand. Es war ziemlich lange her, seit er sich zuletzt über ihre kleine Welt gebeugt hatte, dabei liebte er sie so. Liebte es, sich ihre Fotos anzuschauen, ihre Zeichnungen, ihr Chaos, ihre Poster, ihr Leben, ihre Andenken ...
Die Wände eines heranwachsenden Kindes gleichen einer lustigen Ethnologiestunde. Lebendige Quadratmeter, die sich unaufhörlich erneuern und dabei jede Menge Patafix verschlingen. Wo stand sie heute? Mit welchen Freundinnen hatte sie in einem Fotoautomaten herumgealbert? Wie sah ihr gegenwärtiger Talisman aus, und wo versteckte sich das Gesicht desjenigen, der besser ein Baum wäre, um sich umarmen zu lassen, ohne zu klagen.
Er war erstaunt, ein Foto von Laurence und sich selbst zu finden, das er nicht kannte. Ein Foto, das sie gemacht hatte, als sie noch ein Kind war. Als ihr Zeigerfinger immer noch in irgendeiner Ecke des Himmels auftauchte. Sie wirkten glücklich, und hinter ihrem Lächeln konnte man die Sainte-Victoire sehen. Und hier eine Kapsel in einem durchsichtigen Tütchen, auf dem zu lesen stand Be a Star instantly , ein Gedicht von Prévert, auf ein großkariertes Blatt Papier geschrieben, das mit den Worten endete:
Zu Paris
Auf dieser Erde
Die ein Stern ist.
Fotos von blonden Schauspielerinnen mit vollen Lippen, Internetadressen auf Bierdeckeln, Schlüsselanhänger, idiotische Stofftiere, liebevoll gestaltete Flyer für Konzerte made in Metro, Stoffarmbändchen, eine Reklame für Monsieur G, das Parfum, das die Geliebte zurückholt und mit dem man eine Prüfung auf Anhieb besteht, ein lächelnder Corto Maltese, ein alter Skipass und sogar eine Postkarte von Kallimachos’ Aphrodite, die er ihr geschickt hatte, um ein unangenehmes Kapitel zu schließen.
Ihre erste große Krise ...
Es hatte ihn verrückt gemacht, dass sie ihren Bauch entdeckt hatte.
»Gefärbte Haare, Tattoos, Piercings, was immer du willst!«, hatte er gebrüllt, »du kannst dir von mir aus auch Federn in den Hintern stecken, wenn dir danach ist! Aber nicht deinenBauch, Mathilde. Nicht deinen Bauch ...« Zwang sie morgens,
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