Alles Gold Der Erde
Schweigen im Zimmer noch bedrückender erscheinen.
Mrs. Chase kam, begleitet von Ralph und Serena. »Meinen Sie, daß sie etwas mit uns essen können?« fragte Mrs. Chase. »Wir haben Brot und kaltes Rindfleisch in der Küche. Ich habe auch Kakao gekocht.«
Hiram und Pocket erklärten, sie hätten gegessen und seien noch nicht wieder hungrig. Marny, die seit dem Frühstück aus Kaffee und getrockneten Birnen nichts mehr zu sich genommen hatte, verspürte gleichfalls keinen Appetit.
»Das Essen fällt einem schwer«, sagte Serena.
»Es wäre aber doch besser, du würdest es versuchen«, meinte Ralph besorgt. »Man muß nun mal essen. Von Kaffee allein kann man nicht leben.«
Natürlich hatte er recht, dachte Marny, doch war sie ebensowenig wie Serena an Brot und Rindfleisch interessiert.
Sie vernahmen Schritte im Flur. Dr. Rollins trat ein. Seine Miene war niedergeschlagen: Es war das Gesicht eines Arztes, der versucht hat, ein vielversprechendes Leben zu erhalten und der dabei gescheitert ist. Alle wandten sich ihm zu, und alle wußten, was er ihnen sagen würde, bevor er noch den Mund öffnete.
»Das Kind hat ausgelitten«, verkündete er schlicht.
Marny atmete stumm ein. Serena würgte an einem Schluchzen. Mrs. Chase betupfte mit ihrem Taschentuch die Augen. Pocket sagte:
»Sie haben getan, was in Ihrer Macht stand, Doktor. Das wissen wir.«
»Das hat er gewiß getan«, fügte Ralph hinzu. »Wir haben es ja gesehen.«
Auch Hiram schnaufte schwer. Dann blickte er sie alle an. »Und wer wird es jetzt Kendra mitteilen?«
Keiner antwortete.
Sie brauchten es ihr nicht mitzuteilen. Als hätte auch sie die Fußtritte des Arztes beim Verlassen ihres Kindes gehört, war Kendra von Lorens Zimmer im oberen Stock herabgekommen. Sie stand unter der Tür und starrte sie an. Einen Augenblick lang fand keiner den Mut zum Sprechen. Dann räusperte sich der Doktor.
»Mrs. Shields …«, begann er.
»Ja«, sagte Kendra. Von neuem schaute sie alle der Reihe nach an. Eintönig fuhr sie dann fort: »Ich glaube, ich weiß, was Sie mir berichten wollen. Mein Kind … Ist es zu Ende?«
»Ja, Mrs. Shields«, erwiderte Dr. Rollins.
Marny legte einen Arm um sie. Kendra glitt aus ihrer Umarmung. »Bitte«, flüsterte sie, »bitte, ich möchte ein paar Minuten allein sein.«
»Natürlich«, entgegnete Marny.
Eine Sekunde stand Kendra regungslos da. Sie hatte ihre Hände so fest verkrampft, daß die Knöchel weiß wurden. »Wartet hier auf mich. Hier in diesem Zimmer. Ja?«
»Jawohl, hier«, versprach Hiram.
Kendra verließ sie. Sie hörten ihre Schritte auf dem Flur. Sie hörten, wie sie die Tür des Zimmers öffnete, in dem ihr Kind in seiner Krippe lag, unter dem Tuch, das Dr. Rollins über sein Gesichtchen gezogen hatte. Sie hörten, wie sich die Tür schloß. Sie warteten. Mrs. Chase wischte sich die Augen.
»Welch ein Jammer«, wisperte Pocket.
»Einen größeren Schmerz gibt es auf der ganzen Welt nicht«, murmelte Serena. »Kein Mensch kann euch sagen, wie das schmerzt.« Sie drehte sich um und legte ihr Gesicht an die Schulter ihres Mannes. Er schlang seine Arme um sie. Beide waren in trübe Erinnerungen versunken.
Hiram starrte auf seine großen kräftigen Hände, als sei er schuld an deren Hilflosigkeit.
Endlich kam Kendra zurück. »Marny, kann ich mit dir sprechen?« fragte sie mit starrem weißem Gesicht.
Marny trat zu ihr. Kendra bat die andern zu warten. Dann führte sie Marny hinaus in den Flur. Sie blieben an der Haustür stehen, über die Kendra und Hiram einen Weihnachtskranz gehängt hatten. Kendra faßte Marny bei den Händen.
»Ich muß noch etwas hinter mich bringen. Ich möchte, daß du mit mir nach oben kommst. Wenn ich's geschafft habe, dann kannst du den andern davon erzählen.«
»Ja, Kendra.«
Sie stiegen zusammen die Treppe hinauf. Loren lag hager und mit fiebrig glänzenden Augen im Bett. Nachdem sie Marny auf der Türschwelle zurückgelassen hatte, trat Kendra zu ihm. »Loren«, sagte sie, »hier ist Marny. Sie wollte dich bloß einen Augenblick sehen.«
Es gelang Loren, seinen Kopf ein wenig zur Seite zu wenden und Marny schwach anzulächeln. Sie lächelte zurück und sah, daß der Schmerz in seiner Wunde seinen Körper durchzuckte. Kendra kniete beim Bett nieder. Marny konnte ihr Gesicht nicht sehen. Mit dünner Stimme fragte Loren:
»Wie geht's dem Kleinen?«
Kendra sprach mühsam, aber klar:
»Es geht ihm gut, Loren.«
»Ein prächtiges Baby. Nicht wahr, Marny?« flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher