Alles Gold Der Erde
Revolver schwankte in seiner Hand, so daß er nicht wagen durfte, den Abzug durchzuziehen.
»Ted!« rief sie aus. »Was um alles in der Welt … Warum hilfst du ihr denn nicht?«
Sein Gelächter erstickte seine Worte. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Dieses Mädchen braucht keine Hilfe.«
Marnys Stimme klang nun klar zu ihnen herüber:
»Arma virumque cano, Trojae qui primus ab oris …«
Ted wandte sich zu Kendra um.
»Weißt du, was sie sagt?«
Kendra schüttelte den Kopf.
»Sie spricht lateinisch.«
»Lateinisch?« fragte Kendra. »Aber wo hat sie das gelernt?«
»Wie soll ich das wissen? Ein elegantes Frauenzimmer, das in einem Spielcasino die Bank gehalten hat …«
»Italiam fugo profugus«, predigte Marny, »Lavinaque venit …«
Ted war hingerissen. »Das ist das schönste klassische Latein, das ich je gehört habe. Sie hat Cäsar und Cicero zitiert, und jetzt fängt sie mit Vergils ›Äneis‹ an. Kendra, was meinst du, wo …«
Vom Bach her krachte ein Schuß. Bill fiel der Hut aus der Hand, und er riß mit einem Schrei seine Hand hoch. Doch die Hand war nicht verletzt. Die Kugel hatte nur seinen Hut durchlöchert. Es war ein Meisterschuß gewesen, und jetzt kam Pocket an, um sich von der Wirkung seines Schusses zu überzeugen.
Joe griff nach seinem Messer, aber es war zu spät, denn jetzt schoß auch Ted. Er zielte jedoch ziemlich hoch, denn obwohl auch er ein guter Schütze war, besaß er nicht Pockets Treffsicherheit. Dann sprang er auf die Füße und lief den Seeleuten entgegen; Pocket näherte sich von der andern Seite. Bill und Joe waren eingekreist, und nun brachte auch Marny ihr kleines Schießeisen zum Vorschein. Pocket, der neben ihr stand, befahl:
»Haut ab, ihr Kerle! Nehmt die Beine in die Hand!«
Die Matrosen blinzelten. »Wir wollten niemandem etwas tun«, versicherte Joe.
»Ihr habt auch niemandem etwas getan. Los, verschwindet!«
Sie zogen sich zurück. Ted und Pocket tippten sie mit ihren Revolvern an, worauf sie ihr Tempo beschleunigten.
Kendra trat zu Marny, die sich ins Gras gesetzt hatte und heiter den Rückzug der Seeleute beobachtete. »Marny«, sagte Kendra voller Ehrfurcht, »Sie sind einfach wunderbar.«
Marny sah sich um und kniff dann die Augen zusammen. Bald waren die beiden Helden hinter den Bäumen untergetaucht. Ted und Pocket kamen wieder herbei.
»Ich danke euch, Jungs«, sagte Marny. »Nichts zu danken«, entgegnete Ted. »Sie haben sich ja selber aus der Affäre gezogen.«
Marny hob Bills Hut auf und steckte einen Finger in das Loch der Krempe. »Pocket«, meinte sie dann bewundernd, »Sie wissen aber wirklich, wie man mit einer Kanone umgeht.« Sie warf den Hut fort und streckte die Hand aus. »Helfen Sie mir in die Höhe.«
Er nahm ihre Hand. »Sagen Sie, Miß Marny, Ted hat mir erzählt, daß Sie gebildet seien. Stimmt das?«
Marny strich eine rote Locke aus der Stirn. »Ich bin noch ein bißchen matt. Ich hätte ganz gern eine kleine Erfrischung. Haben Sie in Ihren vielen Taschen nicht auch ein Fläschchen, Pocket?«
Er lächelte bedauernd. »Es tut mir leid, Miß Marny. Ich trinke nicht.«
Sie betrachtete ihn amüsiert und nachsichtig wie damals im Laden von Chase & Fenway, als er gesagt hatte, er spiele nicht.
»Rauchen Sie, Pocket?« fragte sie.
»Nein, Ma'am«, antwortete er sanft.
»Woran haben Sie eigentlich Spaß?«
Pocket lächelte entwaffnend. »Nun, Ma'am, ich habe Frauen ganz gern.«
Marny brach in ein Gelächter aus. »Und ich, Pocket, ich habe Männer ganz gern. Sie sind in Ordnung, mein Lieber.«
Auch Ted lachte. »Ich habe eine Flasche im Wagen, Marny. Kommen Sie mit. Aber wo haben Sie denn Ihr Latein aufgegabelt?«
Marny blickte sie alle mit ihren grünen Augen an. »Wer aus so vielen Schulen hinausgeschmissen worden ist wie ich, hat notgedrungen dies und das aufgeschnappt. Aber wo ist die Flasche? Bis dat qui cito dat – das heißt: Wer schnell gibt, der gibt doppelt.«
Sie ging mit Ted zum Wagen. Ted kletterte hinein und kam eine Minute später mit einer Feldflasche wieder heraus, die er in einem Laden der Armee gekauft hatte; kein Glasbehälter hätte die Reise heil überstanden. Pocket kehrte zu den Pferden zurück. Kendra indessen kam mit einemmal ein Gedanke:
Loren hatte ihr erzählt: »Diese Miß Randolph hat wie eine vollkommene Dame ausgesehen und sich auch wie eine solche benommen.« Sie selbst, Kendra, hatte angesichts der beiden weißen Häuser in Valparaiso geglaubt, daß hübsche
Weitere Kostenlose Bücher