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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Massaua nicht nur voller Gefahren, sondern überflüssig erschien. Vielleicht waren mir all die
Gedanken der vorigen Nacht gerade von meiner Feigheit eingegeben worden, und wenn ich noch länger in diesem Dorf bliebe, würde ich immer mehr Ausreden erfinden, um das Fortgehen so lange hinauszuschieben, bis ich es für unmöglich hielt. Ich würde sagen, dass ich«ihretwegen»nicht fortgehen könne, so wie ich vorher das Gegenteil gesagt hatte. An dem Tag, da ich zu dieser Schlussfolgerung kommen würde, hätte ich meine Dummheiten vergeblich begangen. Ich würde für immer im Dorf bleiben müssen (das heißt: warten, bis ich von einer Carabinieri-Patrouille entdeckt wurde), oder ich müsste zum ersten Kommandoposten dort oben auf dem Rand des Hochlands gehen und der Verhaftung zuvorkommen, indem ich mich stellte.
    Da ich dieses Letztere zurückwies, musste ich möglicherweise einen längeren Aufenthalt im Dorf in Betracht ziehen. Nun, ich konnte aber nicht hierbleiben. Johannes hatte bereits deutlich gezeigt, dass er meine Anwesenheit nicht ertrug; sein flegelhaftes Benehmen der vergangenen Nacht war wohl nur ein Vorschuss auf das, was er für die Zukunft in Reserve hielt, wenn weder der Zweig, mit dem ich gegen meine Stiefel schlug, noch die Pistole ihn einschüchtern würden. Ich musste mich davonmachen; wenn ich blieb, lief ich Gefahr, derart geschwächt zu
werden, dass ich nicht eine einzige Etappe der Strecke durchhielt; und ich wusste doch, dass die erste Etappe, die schwerste, in einem einzigen Tag geschafft werden musste. Ich beschloss, am folgenden Tag fortzugehen, denn jetzt stand die Sonne schon hoch. Ich brauchte mir ums Gepäck keine Sorgen zu machen, es war immer bereit. Ich wollte fortgehen, ohne mich auch nur von Johannes zu verabschieden, um ihm nicht den Sieg auf dem Präsentierteller darzureichen. Ich wollte ihn überraschen mit meiner Verachtung.«Vielleicht», so dachte ich,«wird mein plötzliches Fortgehen ihn treffen, und er wird es bereuen, dass er mich dazu gezwungen hat.»
    Ich faltete die Landkarte auseinander und maß noch einmal die Entfernung vom Dorf bis nach A. Fünfzig Kilometer Luftlinie, rechnen wir sechzig, also zwölf Stunden rüstiger Marschschritt mit nur einer Stunde Rast; alles in allem ein ganzer Tag. Vielleicht hielt ich es durch, und wenn ich in A. ankäme, würde ich bei irgendeinem gastlichen Haus an die Tür klopfen, warum nicht an Rahabats Tür? Rahabat mit ihrem Grammophon; doch nein, dort könnte der Major auftauchen. Nun, ein Haus ist so gut wie das andere. Ich durfte nur der Versuchung nicht nachgeben, auf und ab zu spazieren in der Illusion, nicht geschnappt zu werden; oder der Versuchung (die sehr stark war), auf
einen Lastwagen zu springen, indem ich mir sagte:«Sie werden ja nicht gerade diesen anhalten.»
    Wenn ich es fertigbrächte, diesen beiden Versuchungen zu widerstehen, würde ich nach Massaua gelangen. Und schon frohlockte ich, denn der Gedanke, ein Haus, eine Straße und irgendjemanden, der nicht Johannes war, wiederzusehen, berauschte mich. Ich schritt auf der Lichtung hin und her, glücklich darüber, dass ich noch einmal die Niedergeschlagenheit besiegt hatte und den Wunsch zu kämpfen wiederaufleben fühlte. Nie war mir das Dorf so elend erschienen wie an diesem Tag, vollkommen hinfällig, provisorisch, schon jetzt ein Fressen für Ameisen und, wenn Johannes einmal tot sein würde, eine Höhle für Schakale. Vielleicht warteten sie ungeduldig, dass der Alte stürbe, damit sie sich auf diesem Hügel einrichten konnten, wo der Wind aus den fernsten Gegenden den guten, erregenden Geruch der verwesten Leichen herwehte.«Ja», sagte ich,«wahrhaftig eine Gelegenheit für diese braven Tiere, ein wahres Geruchsobservatorium, wenn dieser Johannes sich entschließen wird, seine Unverschämtheit endlich zu begraben!»
    Als ich Johannes mit dem üblichen Blechkanister voll Wasser zur Hütte gehen sah, konnte ich nicht an mich halten und sagte ihm, dass ich fortgehen wolle. Ich hatte den Zweig in der Hand,
mit dem ich auf meine Stiefel geschlagen hatte, und schwenkte ihn fröhlich, als ich Johannes diesen Bescheid gab, gleichsam als hätte ein lang erwartetes Telegramm mich ermächtigt, jetzt diesen verhassten Ort zu verlassen. Er ging weiter, während er höflich den Kopf neigte (die Lektion in der Nacht hatte gewirkt); dann lächelte er sogar und wandte sich um, wobei er ins Tiefland zeigte. Ich zog gerade die Landkarte zu Rate, als ich ihn hinter mir

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