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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Mariam. In ihren Gesichtern war die gleiche ernste Schönheit, von Jahrhunderten der Dunkelheit verschleiert, die gleichen tiefen Wasser, in die ich einen Augenblick lang eingetaucht war und die ich nicht wiederzusehen wünschte. Sie blickten mich schweigend an, ohne zu lächeln, und ich sah, dass der Leutnant unterdessen die Fassade der Kirche betrachtete, als sei er plötzlich von dieser Architektur angezogen.«Es ist eine sehr einfache Architektur», dachte ich. Als ich die beiden jungen Mädchen grüßte, antworteten sie mit einem Kopfnicken und lächelten. Nun rief ich den Leutnant.«Frag
diese Mädchen, ob sie ein Zuhause haben», sagte ich.
    «Sicher haben sie eins.»Dann fügte er hinzu:«Es wird wohl das ewige sein, das beste von allen.»Darauf übersetzte er meine Frage den beiden Mädchen, und diese machten ein Zeichen, das«Ja»heißen sollte, und sie lächelten wieder und blickten uns an.«Armseliger Limbus», dachte ich. Wieder kam mir Mariam in den Sinn; in diesen Mädchen war die gleiche Schwermut, die ich in ihren Augen und in ihrem Schlaf entdeckt hatte.
    «Was soll ich jetzt fragen? Ob sie uns einladen?»
    Ich lächelte.«Das ist eine gute Idee», sagte ich und dachte, dass alles sehr viel einfacher sei, als man es sich vorstellt.
    Der Leutnant sprach lange mit den Mädchen, und sie schüttelten lächelnd den Kopf, aber ihr Lächeln war so anders, als ich erwartet hatte, dass ich plötzlich darüber bestürzt war. Warum lächeln sie, anstatt sich zu beeilen, uns den Weg zu zeigen? Warum schütteln sie den Kopf?
    «Nichts zu machen», sagte der Leutnant. Im selben Augenblick streckten die beiden Mädchen, wie um ihre Weigerung abzumildern, ihre Hände gegen uns aus.
    Es waren Hände, die von entsetzlichen Wunden zerfressen waren. Also dies war der Grund für ihre Weigerung. So standen sie da, ernst wie
Kinder, welche die Hände hinhalten, damit man nachsehe, ob sie sauber seien.
    Der Leutnant schaute die Hände an, auch ich schaute sie an, und er wandte sich zu mir mit einem Lächeln, das gewiss seine Verwirrung verbergen sollte.«Aussatz», sagte er leise. Die beiden Mädchen ließen ihre Hände sinken und folgten uns mit dem Blick, bis wir durch die Pforte gegangen waren.

3
    Warum betasteten jetzt meine Finger den Handrücken?«Es ist nicht möglich», sagte ich zu mir selbst, und dabei merkte ich, dass ich weiterging, ohne etwas zu sehen. Ich spürte, dass meine Kehle trocken war und mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.«Es ist nicht möglich», aber immer noch sah ich diese Hände vor meinen Augen.
    «Bleiben wir hier», sagte ich. Wir setzten uns auf die Stufen der Telefonbaracke. Zwei frohgelaunte Soldaten brachten einem kleinen Kind bei, mit dem Fahrrad zu fahren, mehr um sich selbst zu vergnügen, als um dem Kind etwas beizubringen. Ich sah dieses Fahrrad die Straße kreuzen, mir entgegenkommen, über die Straße hinausgeraten, umkehren; ich hörte die Worte der Soldaten, die Rufe des Kindes.

    Ich verscheuchte die lästigen Gedanken und gab der Unruhe der vergangenen Tage die Schuld daran und diesem Schauspiel: wie der Platz sich allmählich schloss wie eine Blüte und uns verschlang in seiner verzehrenden Traurigkeit, denn dort unten starb der Tag wirklich, und das Wort«morgen»war die nutzloseste aller Hypothesen.
    Es wurden keine Laternen angezündet, und die Menschenmenge, die spazieren ging, wurde nicht dichter, und keine Leuchtschrift rief sie in die Cafés oder auf die Straßen und in die Theater. Ich dachte an das Licht in unseren Straßen, an den Regen, der es vervielfacht, an die Springbrunnen, die Zeitungsverkäufer, welche die letzte Ausgabe ausrufen, an die Autos, die einen streifen, und an das Lächeln, das man plötzlich in den Spiegeln eines Schaufensters auffängt.«Setz dir nur keine dummen Gedanken in den Kopf», dachte ich,«deine Hand wird heilen und hat nichts mit jenen anderen Händen gemein.»
    «Willst du rauchen?», fragte der Leutnant und hielt mir eine Zigarette hin, und während ich sie anzündete, stützte er ganz leicht meinen Arm. Unfähig, dieses Schweigen zu ertragen, sagte ich:«Die armen Mädchen», und der Leutnant wiederholte meine Worte. Dann sagte er:«Wenn wir in vierzig Jahren wiederkämen, würden wir sie immer noch bei diesem Baum finden. Gealtert,
grauenvoll verstümmelt, aber wir würden sie wieder dort finden.»
    Ich fragte ihn, ob dieser Hof ein Lepraheim sei. Doch der Leutnant zögerte mit der Antwort, als sei ihm das Gespräch

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