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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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antwortete, sie heiße Mimi.
    «Schon gut, aber du heißt doch Mariam, oder nicht?»
    «Ja, Mariam.»(«Gut», dachte ich,«was ist seltsam daran? Alle heißen sie Mariam hier unten.»)«Gute Nacht, Mariam», und ich musste das Lachen zurückhalten. Sie sagte nichts, sie bewegte
sich, und vielleicht lächelte sie zur Zimmerdecke hinauf, wie sie gelächelt hatte, als ich versuchte, den Heizer zu überreden.
    Ich stand lange Zeit da, um im Rechteck des Fensters den fahlen Nachthimmel zu betrachten; nur wenigen Sternen gelang es, die Öde dieses lastenden Schleiers zu durchdringen. Als ich die Sirene eines anderen Schiffes vernahm, das die Stadt zum Abschied grüßte, gab ich die Hoffnung auf, einzuschlafen; und wieder überfiel mich die Mutlosigkeit. Ich würde niemals nach Italien zurückkehren, sagte ich mir. Unnütz, es zu versuchen; ich würde von einer Hoffnung zur anderen schwanken, weil mir der Mut fehlte, der einzig anständigen Lösung ins Auge zu blicken. Ich musste sterben, die Blumen verfaulten in der Wartezeit, und ich zauderte.

3
    Nach einer langen Stunde beschloss ich hinauszugehen, ich wollte zu den ersten Anhöhen hinaufsteigen; dort milderte vielleicht der Seewind den unerträglichen Atem der Häuser. Die Straßen waren warm, aschfahl und schmutzig wie Wischlappen. Am Kai war der leergelassene Anlegeplatz von einem anderen Dampfer besetzt worden, und
die eingeborenen Lastträger luden Kisten aus. Sie sangen, um sich Mut zu machen, und zehn Mann rührten sich, wo zwei genügt hätten; aber so arbeiteten sie, ohne daran zu glauben, wie Betrunkene.
    Ich schlug den Weg zum Bahnhof ein, dann stieg ich zu den ersten Anhöhen hinauf, und als ich die ganze Stadt überblickte, blieb ich stehen, denn die Sonne musste gleich aufgehen, und die Hitze würde unerträglich werden. Ich setzte mich auf einen niedrigen Hügel nahe einer verlassenen Baracke, zwischen dicke, vom Staub zerfressene Büsche.
    Ich schlug von neuem das Büchlein auf, es war wirklich meine Hand, und jene Flecken sahen beinahe so aus wie meine Flecken. Ich begann zu lesen:«… In Montalemberts Geschichte der heiligen Elisabeth von Ungarn 12 finden sich Einzelheiten über die Zeremonie der separatio leprosorum 13 . Man zelebrierte in Gegenwart des Infizierten das Totenamt; nachdem dann die Geräte, die dem Aussätzigen in seiner Einsamkeit dienen sollten, gesegnet worden waren und die Umstehenden dem Kranken Almosen gespendet hatten, führte ihn der Priester, dem das Kreuz vorangetragen und der von allen Gläubigen begleitet wurde, in eine abgesonderte armselige Hütte, welche ihm als Wohnstatt zugewiesen wurde.
Auf das Dach dieser Hütte legte der Priester Erde eines Friedhofs, wobei er ausrief: ‹Si mortuus mundo vivens iterum Deo.› 14 Dann wandte er sich an ihn mit einer trostreichen Rede, in der er ihm die Freuden des Paradieses schilderte. Darauf stellte er ein hölzernes Kreuz vor dem Eingang der Hütte auf, und jedermann entfernte sich…»
    «Genug», dachte ich und steckte das Buch wieder in die Tasche. Der Hafen war voll von Schiffen, die vor Anker lagen; Schiffe in allen Größen, und unter ihnen befand sich auch das Schiff, das mich nach Genua bringen würde, wenn ich sechzigtausend Lire auftreiben konnte, um sie dem Kapitän zu geben. Die Sache war sicher; es handelte sich nicht um einen einfachen Heizer, sondern um einen Kapitän, der irgendeinen Schleichhandel treibt und Geld braucht. Ein heruntergekommener Kapitän. Welches war sein Schiff? Vielleicht dieses rote und graue in der Nähe der Mole? Es musste wohl gerade dieses sein, ein übel zugerichtetes Schiff mit einem Kapitän, der nur Arbeit gefunden hat, weil große Nachfrage besteht, und da ist er wieder in See gestochen, diesmal mit dem Entschluss, sich zu bereichern.
    Ich zog die Pistole aus der Tasche und untersuchte sie, und dabei dachte ich, dass dieser Kapitän mich gastlich aufnehmen würde an seiner
Tafel, und in Genua würde ich gemächlich aussteigen, und wir würden uns verabschieden als Freunde für immer. Aber es war zwecklos, jetzt zweiunddreißigtausend Lire aufzutreiben - angenommen, dass Mariam ihr Angebot wirklich ernst meinte, hinter dem sich wer weiß welche neue Heimtücke verbarg.
    Das Meer lag dort hinten, sein Grau war kaum düsterer als das des Himmels, dunstig und warm, ein an Wunder gewöhntes Meer, das sich aber diesmal nicht auftun würde für mich, einen«Unberührbaren». Ich entsicherte die Pistole, und in diesem Augenblick wurde die

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