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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Trupp
auf. Ein sehr dickleibiger Offizier trat in die Mitte des Vierecks, mit dem Rücken zur Böschung, zog ein Blatt aus einer Kartentasche und begann zu lesen. Ich hörte nichts. Die Soldaten standen regungslos in einer perfekten«Habt acht!»-Stellung da. Zwischen den Baracken waren die Männer in den Unterhosen zusammengelaufen und bewegten sich nicht.
    Der Offizier hatte zu Ende gelesen und kehrte in die Nähe des Trupps zurück. Es wurde«Rührt euch!»befohlen, aber die Soldaten machten keine merkliche Bewegung, und die Stille wurde von keinem Geflüster unterbrochen. Und jetzt wurde ich gewahr, dass sich in der Gruppe der Offiziere auch ein Soldat befand.
    Merkwürdig, dass ich ihn nicht eher gesehen hatte. Er stand barhäuptig da, die Hände auf dem Rücken, neben dem Priester und zwei anderen Soldaten. Die Eingeweide krampften sich schmerzlich in mir zusammen, denn ich hatte begriffen. Ich wollte aufstehen, doch ich blieb wie angewurzelt, außerstande fortzugehen, und hoffte nur, dass ich die Kraft haben würde, nicht hinzusehen, doch ich wusste, dass dies unmöglich war.
    Die drei Soldaten und der Priester bewegten sich auf die Böschung zu. Der Priester flüsterte dem Soldaten ins Ohr, der daherging, ohne etwas
zu sehen; der Priester musste ihn bisweilen stützen und führen.
    Während die vier auf die Böschung zuschritten, setzte sich der Trupp lautlos in Bewegung, und ein Offizier gab ein Zeichen. Die Männer machten die Waffen bereit. Ich hörte kein Geräusch, vielleicht waren die Gewehre schon geladen. Zwischen den Baracken drückten sich ein paar Soldaten herum.
    Jetzt waren die Offiziere alle an ihrem Platz. Der Priester redete noch immer, und der Soldat nickte mit dem Kopf. Kalter Schweiß machte meine Brust und meinen Rücken nass und rann mir an den Beinen herunter. Ich warf mich zu Boden, neben einen Busch; ich wollte nichts sehen und auch nichts hören. Ich begann zu zittern und versuchte mich im Busch zu verstecken. Dies war meine Hinrichtung, genauso würde sie sein, und ich war beizeiten aufgestanden, hatte diesen Weg eingeschlagen, hatte den besten Platz gewählt.
    Der Soldat nickte immerfort mit dem Kopf, und der Kaplan umarmte ihn. Zuletzt küsste er ihn, ließ ihn das Kreuz küssen und zog sich zurück, während er ihn ansah; auch die beiden Soldaten gingen zurück. Der barhäuptige Soldat schaute den Kaplan an, dann wandte er leicht den Kopf zum Hügel hin. Aber er konnte mich nicht sehen, ich war vom Strauch verdeckt, und er
konnte nicht ahnen, dass dort oben jemand war um diese Zeit. Die Männer legten die Gewehre an, der Soldat blickte zum Hügel, plötzlich fiel er vornüber, wie von einer Faust gestoßen, und ich vernahm die Schüsse.
    Ich stieß einen Schrei aus, doch niemand konnte ihn hören. Ich lag dort oben verborgen, während einige Offiziere sich dem Soldaten näherten und der Priester das Kreuz schwang.
    Nun trugen die beiden Soldaten den Kasten von der Fahnenstange zur Böschung, zwei andere legten den Körper des Soldaten hinein, schlossen den Kasten und entfernten sich, ohne zu sprechen. Von den Baracken fuhr ein Lastwagen herbei, der auf dem holprigen Gelände schaukelte.
    Der letzte Blick des Soldaten hatte dem Hügel gegolten, doch es ist unmöglich, dass er mich gesehen hat: Ich war von einem Strauch verdeckt. Niemand hatte mich gesehen, nicht einmal die Soldaten, die jetzt, immer in Reih und Glied, wieder in die Baracken hineingingen; auch nicht die Offiziere, die, ohne sich anzusehen, die Hauptbaracke betraten, um Cognac oder Kaffee zu trinken; und auch nicht der Kaplan, der neben dem Kastenwagen wartete, bis er einsteigen konnte.
    Ich streckte mich aus, um in den Himmel zu schauen, und versuchte mich zu beruhigen. Es war nicht meine Hinrichtung, ich war weder ein
Fahnenflüchtiger noch ein Verräter: Ich war bloß ein Kranker. Einen Kranken erschießt man nicht. Ich hatte einen Urlaubsschein in der Tasche. Was den Doktor anbetrifft, so würde ich hartnäckig leugnen. Und nachher? Was kommt es auf das«Nachher»an?«Ich bin krank», wiederholte ich,«sie dürfen mich nicht erschießen, sie dürfen mich nicht töten, ich muss leben.»Dann sagte ich mir:«Aber warum dann die Komödie mit dem Selbstmord, warum denkst du noch immer an Selbstmord? - Ich will völlig verfallen», erwiderte ich,«aber leben bis zum letzten Augenblick. Ich kann den Himmel nicht verlassen, auch nicht, wenn er so bleiern ist wie dieser; ich kann nichts verlassen, nicht einmal diesen

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