Alles hat seine Zeit
vielleicht zu weit?»
«Nein», entgegnete ich,«es liegt ziemlich hoch.»Er konnte nicht verstehen.
5
Am Tag nach unserer Ankunft in D. wollten wir wieder abfahren, um nach Massaua zurückzukehren. Unterwegs hatte der Major seine Geschäfte abgeschlossen und das Geld eingezogen, das er jetzt in einer Ledertasche verwahrt hielt. Er trug diese ständig bei sich.
Wir wollten im Morgengrauen abfahren, und ich hatte keine Minute zu verlieren. Vor dem Abendessen - der Major war eingenickt - ging ich zum Lastauto. Ich wusste bereits, was ich zu tun hatte. Ich löste eine Schraubenmutter am Lenkgestänge. Es gab deren zwei, eine für jedes Vorderrad; ich lockerte die des linken Rades, ließ sie jedoch in der letzten Rille: Es würde für mich ein Leichtes sein, beim Aussteigen das Werk zu vollenden. Ich drehte sie nur auf. Im gegebenen Augenblick würde ich sie dann wegnehmen. Darauf kehrte ich ins Zelt zurück, und während ich so tat, als stöberte ich in meinen Sachen herum, ergriff ich das Koppel des Majors, der, im Glauben, es sei meines, nicht darauf achtete. Ich nahm die Pistole ab, entlud sie und tat sie wieder an ihren Platz. Jetzt musste ich Ruhe bewahren und die Morgendämmerung abwarten. In der Morgendämmerung würden wir abfahren, zum Fluss hinunter, gerade so wie ich vier Monate zuvor
abgefahren war, um mir den Zahn ziehen zu lassen.
Während der Fahrt war der Major heiter gewesen, unsere Freundschaft hatte sich gefestigt. Auch hatte der Major nicht verhehlt, welcher Natur die Gefühle waren, die er für seine Frau hegte: Er verabscheute sie, und er war recht froh darüber, weit von ihr fort zu sein. Der angehäufte neue Reichtum ließ ihm die Frau im Bilderrahmen sicherlich als ein Hindernis für seine Zukunft erscheinen. Ich folgte seinen abschätzigen Urteilen über die Frauen, unterdessen aber dachte ich an«sie», an das, was ich mich zu tun anschickte, um sie wiedersehen zu können. Ich liebte sie in einem Maße, dass ich wie ein Jüngling plötzliche Herzstiche verspürte, jedes Mal, wenn ich an meinem Unternehmen und damit auch an meiner Rückkehr zweifelte. In den langen Stunden im Lastauto, wenn der Major schwieg, erlebte ich wieder die Augenblicke unseres glücklichen Lebens bis zu der Stunde meiner Abreise, als ich sie von der Mole hatte fliehen sehen, unfähig, die Komödie des Abschiedwinkens auszuhalten; schluchzend war sie ein Stück weit gelaufen und hatte sich dann umgewandt, um mir zu winken, doch ohne mich zu sehen, mit jenem Lächeln, das in den Tränen ertrank.
Öfter als je zuvor sah ich sie jetzt mit dieser Gebärde;
in der Menschenmenge verlor ich sie aus den Augen, dann tauchte sie wieder auf neben der Musikkapelle, eine Hand auf die Brust gepresst, um den Kummer zu ersticken, im Glauben, ich sähe sie nicht. Und doch winkte sie mir noch einmal eilig zu, und schließlich verschwand sie, gestoßen von den Gepäckträgern und Zollbeamten, und erst am Gitter blieb sie stehen, unfähig, den Ausgang zu finden oder den Dampfer anzusehen. Sie stand dort, bis das Schiff unter dem Lärm der Abschiedsrufe ablegte. Und mein von der Blechmusik zugedeckter Schrei erreichte sie nicht.
Ich musste sie wiedersehen. Was ich mich anschickte zu tun, schien mir etwas Selbstverständliches, das mir der Major nicht übelnehmen könnte, wenn er sie kennen würde. Der Major und der Doktor, zwei Steine, die man aus dem Weg räumen und auf Mariams Grab schleudern musste, auf dieses friedlose Grab.
Ich fing gerade an, Zuneigung zu fassen zu diesem Major, der abgesehen von seiner spätreifen Eitelkeit ein braver Mann war und mich liebgewonnen hatte, da er mich für lebensuntüchtig hielt. Ich betrachtete ihn bereits als ausgeschaltet, und bisweilen sah ich unverwandt mein Opfer an, das beharrlich lachte, redete und sich um die alltäglichen Belanglosigkeiten Sorgen machte. Nur ein einziges Mal fragte ich mich, ob es eigentlich
richtig sei, was ich da tat.«Wenn man einmal anfängt», hielt ich mir entgegen,«fährt man auch fort, und vielleicht handelt es sich gar nicht um ein neues Kapitel, sondern darum, das erste zu vollenden.»Es gab nicht allzu viel zu wählen, gewiss. Jener Schuss, der Mariams Leiden verkürzte, tötete auch den Major. Das Verhängnis wollte es, dass ich allen meinen Opfern sympathisch war; sie fanden, ich sei ein lieber, freundlicher Junge: Ja, dies war sogar die wesentliche Voraussetzung. Der Doktor kam mir wieder in den Sinn (jetzt war ich beinahe froh, dass ich ihn nicht
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