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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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aufnahm, und schaute auf die Uhr. Ich musste ihnen diesen Vorsprung geben;
an gewissen Stellen lag die Abkürzung über weite Strecken offen da, und sie hätten mich sehen können. Als die zwanzig Minuten verstrichen waren, machte ich mich erneut auf, hielt mich jedoch abseits des Pfades und betrat ihn nur, wenn das Gelände zu unwegsam wurde. Ich kreuzte die Straße an der gleichen Stelle, wo ich vier Monate zuvor auf den Lastwagen gewartet hatte, und ein dumpfes Motorengeräusch kündigte mir an, dass eine Autokolonne bergauf herankam. Die Lastautos fuhren vorüber und wirbelten Staubwolken auf. Zum Glück wurde ich nicht allzu sehr abgelenkt und konnte gerade noch rechtzeitig die beiden Carabinieri sehen, die den Pfad hinunter zurückliefen, entschlossen, auf das Trittbrett eines Lastwagens zu springen, um früher ans Ziel zu kommen. Sie rannten einige Schritte vor mir vorüber, ohne mich zu sehen, und sprangen lachend auf den ersten Lastwagen.
    Nun verließ ich die Abkürzung und wandte mich dem Hochland zu, das ich wohl ohne weitere Überraschungen erreichen würde. Nach ein paar Stunden gelangte ich dorthin, doch ich konnte nicht weiter: Der Pfad führte geradewegs ins alte Lager, und es gab keine Möglichkeit, es zu umgehen, ohne irgendeinem Wachtposten in die Augen zu stechen.
    Ich hatte mir vorgenommen, mich nie erblicken
zu lassen. Der Verdacht eines Wachtpostens, einem Offizier gegenüber geäußert, hätte für mich den Verlust des anfänglichen Vorsprungs bedeutet. Ich musste zwar unbedingt die Vorstellung von mir weisen, dass sämtliche Carabinieri des Gebiets mir auf den Fersen seien; aber dass ich den Fluss durchquert hatte, war ein Vorteil, den ich nicht durch derartige Unvorsichtigkeiten verscherzen durfte. Vielleicht suchten sie mich jetzt gerade und würden mich noch weiter suchen in Richtung der Berge oder im Tiefland, talabwärts von der Brücke. Ich kehrte um, wenn auch schweren Herzens, und ging wieder die Abkürzung entlang auf den Fluss zu. Ich rastete, um etwas zu essen, und dachte darüber nach, mit welchem Leichtsinn ich beinahe meinen Verfolgern in die Arme gerannt wäre. Und ich hatte mir doch vorgenommen, mich von den Lagern und Dörfern fernzuhalten.«Es ist nicht möglich», überlegte ich,«in weniger als vier Tagen A. zu erreichen. »Und Massaua?
    Ein Monat. Auch zwei, wenn nötig.
    Übrigens, jetzt gleich nach Massaua zu gehen, bedeutete, sich dem Major auszuliefern. In ein oder zwei Monaten würde der Major vielleicht sogar vergessen haben, dass ich existierte, während jetzt sein Verlangen nach Rache aus ganz Massaua eine einzige Falle machte. Ich erinnerte
mich an seine Worte:«Ich bin nur neugierig, wohin Sie gehen werden», und ich fasste wieder Mut. Nahm er wirklich an, dass ich nicht wagen würde, den Fluss zu durchqueren? Nahm er an, dass ich im Gebirge bleiben würde? Ich hatte ihn also hinters Licht geführt; ich aß mit gutem Appetit«diesseits»des Flusses, und mein Weg führte auf seine Falle zu, die in zwei Monaten nicht mehr gespannt sein würde.
    Und«sie»? Es war der Gedanke an sie, der mich nach Massaua trieb; und daher nahm ich mir vor, von diesem Augenblick an den Entschlüssen, die ich unter dem Drang der Erinnerung an sie fasste, zu misstrauen. Das Endziel war ja auch nicht Massaua, sondern Italien, ja, das Zuhause. Solange ich nicht jenes Haus erreicht und an jene Tür geklopft hatte, musste ich mein Unternehmen kaltblütig betrachten und durfte keiner zusätzlichen Gefühlsregung nachgeben. Ich führte eine Arbeit aus. Ich durfte auf keinen Fall der Anziehungskraft Massauas nachgeben, der Anziehungskraft des Meeres, das sich bereits wie eine Gewissheit der Befreiung darbot. Denn jetzt in der Erinnerung kamen mir jene Tage in Massaua wie ein Traum vor, und ich verspürte Sehnsucht danach. Das faule Leben in der Bar und in der Baracke mit den Duschen, das liebe und falsche Gesicht Mariams, nur wie zum Spiel geschminkt, und der
Blick auf diese Schiffe (unter denen ich, wenn ich Geduld hätte, auch das meine fände) waren schon Bilder einer verlorenen Welt, die ich nur mit der Zeit wiedergewinnen würde.«Dass du von diesem Land nicht einmal die Lektion über die Zeit gelernt hast!», sagte ich zu mir.«Du hast das ganze Leben vor dir, um an Aussatz zu sterben, und jetzt brennt dir der Boden unter den Füßen, und du willst hier unten in einem Krankenhaus enden, mit zwei Prozessen, die deine Rückkehr um mindestens drei Jahre verzögern.»
    Als ich an Mariams

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