Alles hat seine Zeit
Strick; es zerrte mich mit, und ich musste es loslassen, um nicht zu fallen. Dann
blieb es stehen und kratzte sich an der Rinde eines Baumes, doch sobald ich mich ihm zu nähern versuchte, floh es, seine Kette auf dem Pfad hinter sich herschleifend. Es widerstrebte mir, es zu töten, und ich musste ihm bis zum Gehölz folgen; ich verfluchte es. Schließlich ließ es sich an die Kette nehmen, und ich konnte meine Sachen wiedererlangen; doch dieser Zwischenfall hatte mir alle Kraft geraubt, und müde legte ich mich hin, um auszuruhen, vom Maultier bewacht, das ebenfalls müde war und weidete.
Ich würde also an diesem Tag nicht mehr am Nebenfluss entlang hinaufsteigen. Schon ging die Sonne unter, und die Melancholie des Abends kündigte sich im Verblassen der Berge an.«Ich werde nie aus diesem Tal herauskommen», dachte ich.«Niemand will, dass ich aus diesem Tal herauskomme.»Meine Gedanken gingen sehnsüchtig zu«ihr», und um meinen Schmerz zu besänftigen, las ich ihren letzten Brief wieder, dann auch die anderen Briefe, aber das Wasser des Flusses hatte sie verwaschen, und an vielen Stellen konnte ich die Worte nicht mehr entziffern. Ich dachte, dass eines Tages meine Tränen das Werk vollenden würden, denn von ihr blieben mir nur diese Blätter.
Ich nahm den Weg zum Wildbach wieder auf, und das Maultier folgte mir, wenn auch in einiger
Entfernung. Die Sonne neigte sich, als ich vor Johannes’ Hütte ankam.
«Guten Abend, Johannes», sagte ich.
«Guten Abend, Herr Oberleutnant», erwiderte er.
«Ich bin sehr müde», sagte ich,«ich werde ein wenig hierbleiben.»
Der Alte gab keine Antwort. Er war damit beschäftigt, auf einem Stein Mehl mit Wasser zu verrühren. Er knetete ohne Eile und goss aus einer alten Büchse Wasser dazu, und als er einen widerlichen und wabbeligen Teig geknetet hatte, warf er einen ovalen Stein hinein, den er unterdessen auf dem Feuer erhitzt hatte, und schloss ihn darin ein. Er stellte den Teig dicht neben das Feuer und wartete.
Ich setzte mich in eine Ecke der Lichtung und sah Johannes zu, der das Backen seines Brotes überwachte. Als das Brot gebacken war, nahm Johannes es vom Feuer, öffnete es wie eine Frucht und ließ es abkühlen; dann begann er langsam davon zu essen; ab und zu hielt er inne, um zum Hochland zu schauen oder zum Fluss, ohne je den Blick auf mich zu richten.
2
Im Morgengrauen erwachte ich ganz plötzlich, wie vielleicht Vögel erwachen, aus einem Schlaf ohne Träume. Es war die erste Nacht nach so vielen Monaten, in der ich nicht geträumt hatte, und all der Kummer der vergangenen Tage schien verflogen zu sein; es blieb mir jedoch eine wirre Erinnerung daran, die sich beim Anblick der noch in Schatten getauchten Hütten erhellte und auch beim Anblick des Maultiers, das unsicher auf der Lichtung hin und her lief und einmal die Pflanzen und dann wieder den Grabhügel beschnupperte. Es schleifte noch immer seine Kette hinter sich her mit einem Geräusch wie von Schlüsseln, die sich, an einem Schlüsselbund klirrend, in einem Korridor entfernen. Ich verstand nicht so recht, ob es der Korridor eines Klosters oder eines Gefängnisses war.«Verfluchtes Maultier», dachte ich.
Ich war nur darauf bedacht, dieses Dorf zu verlassen und mich wieder auf den Weg zu machen, aber eine unüberwindliche Schlaffheit nagelte mich an der Erde fest. Ich lag auf der Decke in der gleichen Stellung, in welcher ich mich hingelegt hatte, den Kopf auf dem Tornister, die Hand am Koppel, neben den Resten des Feuers, auf dem ich am Abend zuvor meinen Kaffee gewärmt hatte. Ich fühlte mich bereit, doch als ich versuchte
aufzustehen, konnte ich mich nur mühsam bewegen, die Glieder versagten.
Und doch musste ich gehen, am Nebenfluss entlang hinaufsteigen, um vor Sonnenuntergang A. zu erreichen. Als das Maultier zu mir herankam und dastand, um mich anzusehen, sprang ich mit einem Ruck auf die Beine. Ich machte meine Sachen bereit und schnallte mir den Tornister auf den Rücken; ich wollte dieses Tier seinem vorhersehbaren Schicksal überlassen, fest entschlossen, von niemandem abhängig zu sein als von mir selbst. Es hätte mir von Nutzen sein können, wenn es nicht in so schlechter Verfassung gewesen wäre und das Unglück es nicht noch starrköpfiger gemacht hätte. Seinetwegen hatte ich schon einen Tag verloren. Ich riskierte, dass es mir an einer schwierigen Stelle abstürzte und dabei meinen Tornister verlor. Ich hätte auch für seine Nahrung sorgen müssen, und dabei war es
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