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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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schon schwer genug, mir meine eigene zu verschaffen.
    Da Johannes wach war, ging ich zu seiner Hütte, um ihn zu begrüßen. Ich bewegte die Beine und fühlte, dass sie schwer waren wie Blei; doch der Marsch würde sie lockern, und ich durfte mir keine längere Ruhepause zugestehen, um nicht bei diesem anmaßenden Alten Verdacht zu erwecken. Er musste wohl bereits irgendetwas argwöhnen,
denn mein Benehmen war schon das eines Flüchtlings, nicht mehr das eines Offiziers.
    «Auf Wiedersehen, Johannes», sagte ich. Ich sah, wie Johannes sich von seinem Lager erhob. Dann kam mir die rötliche Erde der Lichtung entgegen, und der Himmel verschwand; einen Augenblick später lag ich mit dem Gesicht im Staub. Ich schloss die Augen und blieb lange so liegen. Als ich wieder zu mir kam, war die Sonne schon aufgegangen, und ein paar Fliegen tranken an meinen Augen, aber ich war nicht fähig, sie zu verscheuchen; trotz aller Willensanstrengung weigerte sich meine Hand, die kurze Bewegung auszuführen. Wenige Schritte von mir entfernt saß Johannes auf seinen Fersen, unerschütterlich, und schlürfte irgendetwas aus der Blechbüchse, die ihm als Becher diente. Er schlürfte und schaute dabei um sich und hatte nicht bemerkt, dass ich die Augen geöffnet hielt.
    Einige Minuten lang schwiegen wir so, ich, unfähig zu sprechen, er, indem er mich ohne Neugier ansah, die Hände auf seinen langen Stock gestützt; mit dem Zeigefinger der Rechten strich er in einer immer gleichförmigen Bewegung über den Stock. Als er sah, dass ich die Augen geöffnet hatte, stand er auf, winkte mir, ich solle warten, und wandte sich dem Pfad zu. Er ging gebeugt, mit eingezogenen Schultern. Er entfernte sich,
und ich war nicht imstande, mich zu rühren. Er war schon hinter dem Rand der Lichtung verschwunden, als es mir gelang zu schreien. Der Schrei kam plötzlich heraus, abgerissen, doch Johannes konnte ihn nicht vernehmen; nur das Maultier hörte ihn und wendete mir seinen Kopf zu, seine Kette schleifend im düsteren Korridor. Ich versuchte mich zu bewegen, fuchtelte in der Luft herum, schrie abermals, aber meine Kehle war so trocken, dass mir die Stimme versagte. Der Schrei verwandelte sich in eine Klage, und erst jetzt sah ich am Rand der Lichtung zuerst Johannes’ Kopf und dann langsam seinen ganzen Körper wieder auftauchen. Er kam zurück.
    Als er mich so verstört sah, fragte er, ob ich etwas wolle. Ich hatte schon den rauhen, kehligen Klang seiner Stimme vergessen, und es machte mir keinen Mut, als ich ihn wieder hörte. Ich winkte ihm zu bleiben. Dann, nach einer Weile, fragte ich:«Wohin wolltest du gehen?»
    «Rauf», und er zeigte zum Hochland hinauf. Er habe gehen wollen, um Hilfe zu holen, er wolle keine Scherereien. Ich gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, dass er nicht fortgehen dürfe, und er gehorchte. Er stellte seinen Stock in die Hütte, zog seine Toga aus und fragte mich noch einmal, ob ich etwas wolle. Ich wollte nichts. Ich wollte nur, dass er sich nicht entferne; und als er
noch einmal aufbrach mit einem leeren Benzinkanister, musste er mir mehrmals beteuern, dass er nur zum Fluss gehe, um Wasser zu holen, und sogleich zurückkehren werde.
    «Johannes», sagte ich zu ihm, als ich ihn wieder auftauchen sah,«ich muss hierbleiben.»
    «Bis morgen, Herr Oberleutnant?», fragte er.
    «Ja, bis morgen.»Und ich dachte:«Morgen geht es mir besser, und ich werde diesen Ort verlassen; ich werde keine Nacht mehr bei diesen Leichen schlafen, die Rinde dieser Bäume nicht mehr sehen und auch nicht diesen von den Rändern des Tals eingeschlossenen Himmel.»
    Aus dem Kanister sickerten Wassertropfen auf Johannes’ Füße. Er schwieg, und ich wagte nicht, ihn anzusehen; ich sah nur seine staubigen Füße an und das Wasser, das sie wusch. Schließlich sagte er:«Es steht dir frei zu bleiben», und er sagte es schroff, doch wollte er nicht unhöflich sein. Er anerkannte mein Recht.
    «Danke», sagte ich.
    Johannes entfernte sich, bald danach war er zurück, und wieder auf den Fersen sitzend und fast zuvorkommend fragte er mich:«Hast du Hunger, Herr Oberleutnant?»
    Ich hatte Hunger, oder zumindest war eine große Kraftlosigkeit in mir, aber ich verneinte. Zwieback und Käse, auch wenn sie zu Brei geworden
waren im Flussbad, waren immer noch seinem schlecht gekneteten und in der Erde dieser Lichtung gebackenen Brot vorzuziehen. Ich wolle später essen, sagte ich, um ihn nicht mit einer allzu offensichtlichen Ablehnung zu beleidigen. Doch

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