Alles ist mir nicht genug
einer neuen freien Versform, von der er noch nicht ganz überzeugt
war.
dein
gesicht eine mandel du linderst
den
schmerz, der schnitte und ölst mein getriebe
Du ölst mein
Getriebe? Nein, das klang zu zweideutig. Er wollte Vanessa nicht auf falsche
Gedanken bringen, falls er ihr das Gedicht mal zu lesen geben sollte.
Eigentlich wollte er damit nur ausdrücken, dass sie ihn inspirierte. Er starrte
auf die Wörter und suchte krampfhaft nach einer unverfänglicheren
Formulierung. Schließlich riss er das Blatt aus dem Heft und zerknüllte es. Was
war los mit ihm? Wieso brachte er in letzter Zeit gar nichts mehr zustande?
Er spürte,
dass er beobachtet wurde, und drehte den Kopf nach links, wo Chuck Bass, der
größte Widerling aus seinem Jahrgang, saß. In der Siebten hatte Chuck zu den
mickrigsten Jungs der Klasse gehört, hatte eine Hornbrille und braune
Kordanzüge getragen und ausgesehen, als müsse er ständig ganz dringend aufs
Klo. Einmal hatten sie in Englisch die Aufgabe bekommen, ein Gedicht über
irgendein Körperteil zu schreiben, und weil Chuck die volle Niete war, hatte er
Dan ein Zettelchen zugeschoben und um Hilfe angefleht. Dan war schon immer
schriftstellerisch begabt gewesen, und er hatte ohne groß nachzudenken ein paar
Zeilen über seine Hände geschrieben und darüber, was sie im Laufe eines Tages
so alles für ihn taten. Er hatte das Gedicht Chuck überlassen und dann schnell
noch eines über Lippen hingeworfen, das aber nicht halb so gut geworden war.
Chuck hatte für das Händegedicht eine Eins plus bekommen und der Lehrer hatte
darunter geschrieben: Na also. Es geht doch, wenn du nur
willst ©. Dan handelte sich mit seinem Lippengedicht eine Zwei ein und den Kommentar: Ich weiß, dass du es besser kannst
Eigentlich
hatte er damit kein Problem gehabt. Immerhin hatte er einem Mitschüler
geholfen, der extrem hilfsbedürftig zu sein schien. Das änderte sich, als
Chuck innerhalb eines Jahres ungefähr einen halben Meter in die Höhe schoss, anfing
sich zu rasieren, sich einen Siegelring und einen blauen Kaschmirschal als
Markenzeichen zulegte und sich in ein hochkarätiges Superarschloch verwandelte,
besonders was Mädchen anging. Vor ein paar Wochen hatte er auf einer Party
sogar Dans kleine Schwester sexuell belästigt. Dan hatte Chuck seine Abneigung
deutlich gezeigt, aber das schreckte Chuck anscheinend nicht ab.
Jetzt linste
er auf Dans Prüfungsheft und versuchte, seine Analyse der »Ode an eine
Nachtigall« zu entziffern. Dan blätterte auf die nächste freie Seite und
schrieb mit fetten Großbuchstaben: HEY, ARSCHLOCH - KANNST DU DAS LESEN? DU
BIST EIN ELENDER WICHSER!
Chuck kniff
die Augen zusammen. Dann zeigte er Dan den Finger.
NEIN, DU! DU
BIST DER WICHSER!, schrieb Dan und unterstrich es zweimal.
Bevor er sich
mit der zweiten Prüfungsfrage beschäftigte, las er noch einmal ein paar Sätze
aus der »Ode an eine Nachtigall«.
Umdunkelt
lausch ich; ich hab manches Mal
mich halbwegs
in den leichten Tod verguckt
Eigentlich war
das der perfekte Anfang für ein Gedicht über Vanessa. Sie umdunkelte ihn mit ihrer düsteren Aura. Und es stimmte, Dan hatte sich selbst halbwegs in
den leichten Tod verguckt, sonst würde er nicht Kette rauchen, sich so schlecht
ernähren und viel, viel zu viel Kaffee trinken. Vanessa sorgte dafür, dass er
geistig gesund blieb. Sie hielt ihn am Leben.
Dan griff
wieder zum Stift und grübelte darüber nach, wie er prägnant und poetisch
dasselbe ausdrücken konnte wie Keats, nur eben anders. Aber sosehr er sich auch
abmühte, ihm fiel einfach nichts ein, was auch nur annähernd an Keats
herangekommen wäre. Irgendwann gab er auf und las die nächste Prüfungsfrage.
Im
Unterricht wurden verschiedene Deutungen der menschengemachten,
menschenähnlichen Kreatur in Mary Shelleys Roman besprochen. Was symbolisiert
das von Dr. Frankenstein erschaffene Monster für Sie persönlich?
Dan
betrachtete nachdenklich das rot glühende Notaus- gang-Zeichen über der
Turnhallentür. Das Monster machte ihm Angst und hatte gleichzeitig auch etwas
Schönes an sich. Es wollte keinem wehtun und konnte doch nicht anders - es war
nun mal ein Monster. Eigentlich war es wie die Liebe: schrecklich und schön,
beängstigend und befreiend, erregend und todtraurig, alles in einem.
Vom kreativen
Schaffensdrang übermannt, blätterte Dan zitternd hinten im Heft eine neue Seite
auf und schrieb noch einmal »für vanessa« in die oberste Zeile. Darunter
notierte er den ersten
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