Alles kam ganz anders
ich französisch und tue so, als verstünde ich überhaupt kein Deutsch. Beinahe alle Menschen sprechen ja hier französisch, so kann ich mir also helfen. Meine beiden kleinen Schützlinge gehen zur Schule, dort wird auf Hochdeutsch unterrichtet, mit denen kann ich mich also gut unterhalten. Nur wenn ich sie mit gutem Grund beschimpfe, verstehen sie nur Schwyzerdeutsch, die kleinen Racker!
Grüße Deine Mama, Marcus und die Viecher. Machst Du schon Striche in den Kalender? Falls es so ist, daß Dein Ingo zu Weihnachten zurückkommt, fehlen ja nur noch sechzig und ein paar Striche!
Alles Gute, liebe Elaine! Falls Du gegen jede Vermutung irgendwann eine freie Minute hast, dann schreib doch drei Worte an
Deine Simone“
Als ein PS hatte sie ihre genaue Adresse und die Telefonnummer geschrieben.
Nun ja, ich konnte sie abends anrufen. Zum Schreiben würde ich bestimmt nicht kommen!
Ich faltete den Brief zusammen und holte mein Lateinheft aus der Schultasche. Für die nächsten zwei Stunden durften Mama, Marcus und die übrige Welt nicht mit mir rechnen!
„Ach, Elainchen“, sagte Mama am nächsten Morgen. „Ich habe vor, heute dein Rad zu klauen! Gibst du mir bitte den Schlüssel?“
Mamas Wagen war in der Werkstatt, sie würde ihn erst am nächsten Tag wiederkriegen.
„Kannst du denn noch radfahren?“ fragte ich.
„Radfahren verlernt man nicht! Das habe ich seit meinem achten Lebensjahr gekonnt. Ich muß heute so viel einkaufen, und deine Radtaschen fassen doch eine ganze Menge!“
„Stimmt! Also, viel Vergnügen, fahr vorsichtig! Ich berechne fünfzig Mark Miete pro Stunde! Tschüs!“
Dann rannte ich zum Bahnhof, mit der guten Laune und dem guten Gewissen, das eine Schülerin hat, wenn sie weiß, daß sie in allen Fächern vorzüglich vorbereitet ist!
In der vorletzten Unterrichtsstunde hatten wir Latein. Antje war gerade aufgerufen, sie hatte gewisse Probleme mit der Übersetzung. Da wurde die Tür geöffnet, und der Direktor erschien höchstpersönlich.
„Ich möchte Elaine Grather sprechen. Elaine, kommen Sie bitte mit, nehmen Sie gleich Ihre Schultasche und Ihre Sachen mit. Elaine hat für den restlichen Tag frei“, das war an unseren Lateinlehrer gerichtet.
Ich wanderte hinter dem Direktor her in Richtung Büro und fragte mich, was in aller Welt… ich hatte ein reines Gewissen, hatte wirklich nichts ausgefressen. Was war bloß los?
„Setzen Sie sich, Elaine.“ Seine Stimme war freundlich, aber sehr ernst.
„Ich habe gerade einen Anruf von Ihrer Nachbarin in Rosenbüttel gekriegt.“
„Um Gottes willen, ist Mama was passiert? Mit dem Rad?“
„Ja, leider, genau das ist es. Sie ist gestürzt und hat Verletzungen erlitten, die Frau…. die Frau…“
„Geest“, half ich.
„Ja, richtig, Frau Geest, sie wußte nicht, welche Verletzungen, aber Ihre Mutter wurde ins Krankenhaus hier in Braunschweig gebracht. Fahren Sie gleich hin. Ja, und dann sollte ich Ihnen sagen, daß Frau Geest sich um Ihren kleinen Bruder und die Tiere kümmert, in dem Punkt können Sie beruhigt sein.“
Ich biß mir auf die Lippen, versuchte die Tränen zu unterdrücken.
„Haben Sie Geld bei sich? Nicht sehr viel? Hier…“ Ein Zwanzigmarkschein wurde mir in die Hand gedrückt. „Ich rufe ein Taxi. Und falls Sie morgen nicht zur Schule können, dann rufen Sie mich an und sagen Sie mir, wie es Ihrer Mutter geht. Ich drücke Ihnen die Daumen, Elaine.“
„Vielen Dank, Herr Direktor, tausend Dank.“
Dann saß ich mit Herzklopfen und voller Angst im Taxi. Meine Mami, mein Muttilein, oh, möge es nur eine leichte Verletzung sein, oh, lieber Gott, mach, daß es nichts Schlimmes ist, lieber Gott, laß Mama bald gesund werden…
Die Schwester beim Empfang wußte Bescheid.
„Ach ja, die Patientin aus Rosenbüttel, der Unfall mit dem Rad. Ich gebe Bescheid, warten Sie einen Augenblick. Ich glaube, sie wird gerade geröntgt.“
Es folgten zwei Telefongespräche, dann gab die Schwester mir Bescheid.
„Ihre Mutter ist gerade vom Röntgen gekommen. Gehen Sie auf die Chirurgische Station, da können Sie den Arzt sprechen. Ich zeige Ihnen…“
Sie erklärte mir, wie ich gehen sollte, und ein paar Minuten später stand ich einem jungen Arzt gegenüber.
„Nein, nein, lebensgefährlich ist es nicht!“ beeilte er sich zu erklären. „Nur sehr unangenehm. Ihre Mutter hat beide Arme gebrochen!“
„Beide… beide Arme!“ wiederholte ich.
„Ja, ich habe mir gerade die Röntgenaufnahmen angesehen.
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