Alles kam ganz anders
selbst ein bißchen weiterzulernen. Sie haben ja jetzt eine gute Grundlage. Also, viel Glück, Elaine. Gerade jetzt ist die Schule nicht Ihre erste Pflicht. Die Tochterpflichten stehen an erster Stelle!“
Es war ein neues und merkwürdiges Gefühl, diejenige zu sein, die denken und handeln mußte, die die ganze Verantwortung zu tragen hatte. Bis jetzt hatten andere für mich gedacht und gehandelt. Wenn ich Besorgungen machte, dann mit Mamas Einkaufsliste in der Hand; ich brauchte mir nie zu überlegen, was wir brauchten, was gekauft werden mußte. Ich hatte schon manchmal im Haus geholfen, aber immer nur das getan, was mir gesagt wurde. Ich hatte ein behütetes Leben geführt. Außer meinen Schulaufgaben hatte ich nie die Verantwortung für irgend etwas gehabt.
Ich setzte mich auf eine Bank im Warteraum des Krankenhauses und überlegte, was ich einkaufen mußte. Morgen würde Jessica kommen, ich mußte für Sonnabend und Sonntag etwas im Haus haben. Hatten wir genug Kartoffeln? Wieviel Brot mußte ich für zwei Tage für vier Personen berechnen?
An dem Freitag war ich zum letztenmal in der Schule. So merkwürdig es auch klingt – ich war niedergeschlagen, als ich zum Tor hinausging. Ich würde mich nach der Schule sehnen! Wenn mir jemand das vor einem Jahr gesagt hätte!
Diesmal brauchte ich nicht auf die Besuchszeit im Krankenhaus zu warten.
Ich mußte nur schnell zur Krankenkasse und den Krankenschein für Mama holen; dann nichts wie los, um meine arme Patientin abzuholen.
Angezogen mit der von mir zurechtgebastelten Bluse, und mit dem Mantel lose über die Schultern gehängt, trat Mama per Taxi die Heimfahrt an. Sie war ruhig und lieb, aber kein Mensch konnte behaupten, daß sie bester Laune war!
Als ich ihr erzählte, daß Jessica am gleichen Abend kommen würde, spürte ich eine Art Erleichterung aus ihrem Gesichtsausdruck. Sie sprach wenig, sah aber sehr nachdenklich aus. Na, mit dem Sprechen eilte es nicht. Der Himmel wußte, daß wir in den nächsten Wochen reichlich Zeit fürs Sprechen haben würden.
Wir holten Marcus ab, und das Sprechen besorgte er! „Tut es weh, Mama? Wie war es im Krankenhaus? Wie lange mußt du diese komischen Verbände tragen? Mama, kannst du jetzt nicht mein Zeugnis unterschreiben? Muß Elaine schreiben, falls ich einen Entschuldigungszettel brauche? Mama, wieso bist du gestürzt, war viel Sand auf dem Weg? In solchem Sand bin ich auch einmal gestürzt, aber ich habe nichts gebrochen! Mama, kannst du auch nicht allein essen? Müssen wir dich füttern, so wie Titine?“
„Ja, Marcus“, sagte Mama mit einem angestrengten kleinen Lächeln. „Wenn ihr mich nicht füttern würdet, dann müßte ich verhungern!“
„Aber wir füttern dich ganz bestimmt, Mama! Ehrenwort! Und weißt du, heute kommt Jessica, dann gibt es bestimmt Zitronenpudding, und du kriegst eine ganze Menge davon, nicht wahr, Elaine?“
„Doch, Marcus, ganz bestimmt!“
Das Taxi hielt. Wir waren zu Hause.
Schon an diesem ersten Nachmittag fing ich an, Erfahrungen als Krankenschwester zu sammeln. Ich machte Kaffee, dazu hatte ich in Braunschweig Kuchen besorgt. Es war keine Kunst, Mama Kuchenstückchen in den Mund zu stecken, mit dem Kaffeetrinken war es schwieriger.
„Weißt du was?“ sagte Mama. „Ich glaube, ein Strohhalm wäre das richtige. Guck doch nach, ob wir nicht noch eine Packung Trinkhalme haben!“
Das hatten wir. drei oder vier Stück waren noch da. Ich beeilte mich, auf meinem Einkaufszettel für morgen Trinkhalme aufzuschreiben.
Ich zog Mama die Schuhe aus. und Marcus holte bereitwillig und dienstbeflissen ihre Hausschuhe. Dann kam die erste der intimeren Dienstleistungen. Ich mußte Mama helfen, als sie zur Toilette mußte. Dann kämmte ich ihr die Haare und holte eine warme Stola, mit der sie ihre merkwürdige Bluse verdecken konnte. Ich putzte ihr die Nase und legte ihr den Brief hin, der am gleichen Tag von Papa gekommen war.
„Elainchen“. sagte Mama. „Wenn ich mich jedesmal gerührt bedanken sollte, wenn du mir geholfen hast, dann käme ich aus dem Danken gar nicht raus. Wollen wir uns darüber einigen, daß ich nachher alles in einem einzigen Riesen-Dank zusammenfasse, wenn diese schlimme Zeit zu Ende ist?“
„Unbedingt, ich bin ganz einverstanden. Aber weißt du. Mama, vielleicht wird es keine schlimme Zeit. Du und ich verstehen uns doch so gut. wir haben einander so lieb, und jetzt werden wir Tag und Nacht zusammen verbringen, wir werden mehr miteinander reden
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