Alles muss versteckt sein (German Edition)
ihrem Hals. So sehr hat sie sich darauf gefreut, wieder mit den Kindern arbeiten zu dürfen! Doch genau um die geht es eben auch: um die Kinder. »Es geht auch um die Kinder«, formuliert sie ihren Gedanken laut. »Die können schließlich nichts dafür und müssen wegen mir jetzt zu Hause bleiben. Das will ich nicht!« Einen Moment sieht Christopher noch immer fuchsteufelswild aus, doch dann scheint auch er in sich zusammenzusacken, er lässt die Schultern sinken, seine kämpferische Miene weicht einem Ausdruck von Resignation.
»Vielleicht hast du recht.«
»Ja«, sie nickt. Er setzt sich neben sie, nimmt sie in den Arm und presst sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekommt.
»Es tut mir leid«, flüstert er und streichelt ihr dabei übers Haar. »Es tut mir so unendlich leid.« Daran, wie sein Körper zuckt, kann sie spüren, dass er weint. Sie beugt sich zurück, nimmt sein Gesicht in beide Hände und wischt ihm die Tränen fort.
»Ist schon gut, du kannst nichts dafür.«
»Doch«, erwidert er. »Ich hab dich damals allein gelassen, vielleicht ist es nur deshalb so weit gekommen.«
»Schscht«, tröstet Marie ihn. Sie streichelt ihm über die Wange, fühlt seine glatte, weiche Haut unter ihren Händen, sieht die Tränen in seinen Augen. Und schließlich sein Gesicht, das ihrem, wie in Zeitlupe, näher und näher kommt, bis ihre Lippen sich berühren.
Es ist ein zärtlicher, ein vorsichtiger, tastender Kuss. Als hätten beide Angst davor.
»Marie«, murmelt Christopher. »Ich wünschte, ich könnte das alles einfach wegküssen.«
»Schscht«, macht sie noch einmal. »Ist schon gut. Es ist gut.« Sie rückt ein Stück ab von ihm und sieht ihn an, er versucht, sie wieder näher an sich heranzuziehen. »Nein, Christopher«, wehrt sie ihn sanft ab. »Nicht mehr, jetzt nicht. Ich brauche etwas anderes. Ich brauche einen Freund, der mich versteht.« Christopher nickt. Traurig und ratlos.
An Schlaf ist nicht zu denken, als Marie später in ihrem Bett liegt und an die Decke starrt. Obwohl sie und Christopher wissen, dass es keine Lösung gibt, haben sie noch stundenlang debattiert. Darüber, was Marie tun kann. Ob sie überhaupt etwas tun kann. Und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es momentan keinen Ausweg gibt.
Ja, sie könnte sich bei einer anderen Kita bewerben. Aber ihr Fall hat zumindest in ganz Hamburg für so viel Wirbel gesorgt, dass es sinnlos wäre, man wird sie überall erkennen oder wenigstens bald herausfinden, wer sie ist. Vielleicht hat sie in ein paar Jahren, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wieder eine Chance als Erzieherin. Bis dahin wird es schwierig werden, Eltern zu finden, die ihr ihre Kinder anvertrauen.
Elli! Wie gern würde sie sich mit ihr austauschen, mit jemandem, der genauso betroffen ist wie sie. Der vielleicht einen Rat hat, irgendeine Idee, auf die Marie selbst nicht kommt. Jemand, der ihr sagen kann, wie sie mit diesem Kainsmal umgehen soll, wie sie damit ein halbwegs normales Leben führen kann. Aber Elli ist weg, es gibt sie für Marie nicht mehr.
Jan Falkenhagen? Er ist zwar nicht mehr für sie zuständig, trotzdem hat der Arzt ihr beim Abschlussgespräch angeboten, dass sie sich jederzeit bei ihm melden darf. Marie verwirft den Gedanken, er kann ihr auch nichts anderes sagen als das, was nicht Betroffene halt so sagen: dass es schon wieder gut werden wird und sie sich noch etwas mehr erholen soll. Was man so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.
Ein paar Minuten bleibt Marie noch liegen, dann setzt sie sich im Bett auf. Das Forum. Sie könnte dort einen anderen Betroffenen suchen, mit dem sie sich austauschen kann. Aber dafür müsste sie ihre ganze Geschichte erzählen. Und wie diese Geschichte erzählen, ohne dass dem anderen klar wird, wer sie ist? Jemandem, den sie nicht kennt, ihr gesamtes Unglück schreiben?
Sie geht rüber zu ihrem Notebook. Sie wird es noch einmal versuchen. Versuchen, ob sie Elli nicht doch wiederfinden kann. Vielleicht gibt es im Forum jemanden, der eine Ahnung hat, wo sie steckt, ob es ihr gut geht, ob man sie irgendwo erreichen kann. Den Versuch ist es wert.
Marie surft zum Forum, loggt sich ein und eröffnet einen neuen öffentlichen Thread:
Achtung, wichtig! Suche dringend Hamburg-Elli. Wer hat oder hatte Kontakt zur ihr? Bitte private Nachricht an mich!
15
A m nächsten Morgen ist Maries Postfach leer. Schon um kurz vor sieben fährt sie im Bett hoch, obwohl sie erst um fünf Uhr eingeschlafen ist,
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