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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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sich eigenartige Mutterinstinkte in mir. Jemand sollte den Jungen ins Bett bringen, und zwar so schnell wie möglich!
    Die Tür zum Wohnzimmer ging auf. Vera kam wieder herein, mit einem Gesicht, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie war weiß wie die Wand, ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. Der Intendant! , dachte ich im ersten Moment, er hat sie gerade rausgeschmissen!
    Aber dann fiel mein Blick auf Veras Hand. Weit von sich gestreckt hielt sie mein Handy, als wäre es ein kleines, totes Tier, das sie mit spitzen Fingern vor sich hertrug, um es im nächsten Mülleimer zu entsorgen.
    »Was?«, brachte sie gepresst hervor, »was, um Himmels willen, ist das?« Patricks und Rudolph Meissners Gespräch verstummte. Und erst in diesem Moment hörte ich sie. Hörte meine eigene Stimme, die laut und deutlich aus dem Lautsprecher meines Handys schepperte.
    »Aus der Küche hole ich ein Messer, das lange scharfe Fleischermesser, das in dem Holzblock steckt. Dann schneide ich ihm erst die Kehle durch, danach steche ich wieder und wieder auf ihn ein. Sein Körper zuckt und blutet wie ein geschlachtetes Schwein, blutet in strömenden Fontänen aus … «
    Ich saß da wie im Schock, unfähig, mich zu rühren oder etwas zu sagen. Patrick und Rudolph Meissner schauten ungläubig auf Vera und mein Handy. Felix schien aus seinem Koma erwacht zu sein, auch er saß jetzt kerzengerade auf seinem Stuhl.
    »… ihr schwerer Fuß aus Bronze liegt in meiner rechten Hand«, krächzte meine Stimme weiter durch die angespannte Stille , »ich hole aus und zertrümmere ihm mit einem Schlag sein hübsches Gesicht … «
    »Was für eine abgefahrene Scheiße!« Felix klang auf einmal erstaunlich klar, während meine Stimme weiter wie ein böser Geist durchs Esszimmer waberte.
    »Mach das aus!«, schrie ich. »Schalt das sofort aus!« Ich sprang von meinem Stuhl auf und stürzte mich auf Vera. Sie kam ins Taumeln, als ich ihr das Telefon entriss, aber das war mir egal, ich suchte mit zitternden Händen nach der Stopptaste. Noch ein paar Wortfetzen, ein paar Schreckenssätze aus meinem Kopf spuckte das Handy aus – dann war Ruhe. Eine unheimliche, unerträgliche Ruhe. Niemand sagte ein Wort, niemand schien auch nur zu atmen. Ich sah von meinem Telefon auf, überall dieselben entsetzten Gesichter wie damals im Kindergarten.
    Raus hier!, schrie eine Stimme in mir, dieselbe Stimme wie schon damals. Raus hier! Ich tat, was die Stimme verlangte, griff nach meiner Handtasche, riss sie so heftig von der Stuhllehne, dass ein Riemen abriss, und stolperte aus dem Zimmer. Raus in den Flur, raus aus dem Haus! Hinter mir knallte die Tür ins Schloss.
    Draußen achtete ich nicht auf den Gehweg, nicht auf die Straße, ich lief und lief und lief, stolperte, fiel zwei Mal hin, schlug mir die Knie und die Hände blutig, rappelte mich wieder hoch und rannte weiter. Aber so schnell ich auch rannte, die grauenhafte Stimme, die ja meine eigene Stimme war, hallte durch meinen Kopf und wiederholte all die fürchterlichen Sätze, die auf meinem Telefon waren und die sie alle – SIE ALLE – soeben gehört hatten.
    Irgendwann blieb ich atemlos stehen und lehnte mich gegen eine Hauswand. Ein junges Pärchen spazierte an mir vorbei, die Frau musterte mich mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen. So wie man jemanden mustert, der verheult, nach Atem ringend, mit verschrammten, blutenden Knien und Händen an einer Hauswand lehnt. Das Paar hielt kurz inne, als würden die zwei überlegen, ob ich vielleicht Hilfe brauchte. Mit einem Kopfnicken deutete ich an, dass alles in Ordnung war. Denn es gab keine Hilfe für mich, nicht für diese arme Irre.
    Mein Handy klingelte, ich musste erst gar nicht nachsehen, um zu wissen, dass es Patrick war. Ich ging nicht ran, auch nicht bei seinen nächsten fünf Versuchen. Genauso wenig hörte ich mir die Nachrichten an, die er mir auf der Mailbox hinterließ. Stattdessen ging ich weinend nach Hause, ließ das Handy in der Tasche klingeln und klingeln. Ich konnte es nicht, konnte einfach nicht rangehen. Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Dass das alles nur ein Scherz war? Mein erster Versuch, einen Krimi zu schreiben? Ja, das könnte ich ihm sagen, einfach eine neue Lüge erfinden und mich tiefer und tiefer in diese Sache verstricken, die ich nicht mehr im Griff hatte und in Wahrheit auch nie im Griff gehabt hatte, von Anfang an nicht. Es war an der Zeit, es einzusehen: Meine Zwänge hatten gewonnen. Lange hatte ich mich gegen sie

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