Alles über Sally
englischen Nagel nicht auf Anhieb getroffen und anschließend verbogen hatte. Oder lag es daran, dass sie die Durchsage, die zur Siegerehrung rief, nicht verstanden hatte? Sally war mit ihrem Luftballon befasst, an dessen Schnur eine Namenskarte hing, von Kinderhand eine Wiener Adresse darauf, leichter Regen befeuchtete die ungelenke Schrift. Kann sein, es herrschte Niederdruck, auf alle Fälle enthielt der Luftballon zu wenig oder schlechtes Gas. Als Sally ihre Faust öffnete, blieb der Luftballon einen Moment lang stehen, als wolle er Sally anschauen, dann sank er langsam zu Boden, das war enttäuschend. In diesem Moment kam Risa angerannt, Sally war schon zweimal ausgerufen worden, weil man ihr für ihren zweiten Platz beim Tretrollerrennen etwas umhängen wollte. Sally sagte, die Karte sei zu schwer, der Luftballon fliege nicht. Also riss sie die Karte von der Schnur.
»Nein!« schrie Risa.
Sally ließ den Luftballon los, siebenjährig, pragmatisch, pragmatischer als ihre Mutter. Risa sah den Fall – emotional.
»Sally, du Dummchen, jetzt bist du aus dem Rennen.«
Und der Luftballon flog, flog über Sallys Kopf hinweg, über den Kopf ihrer Mutter hinweg, über London hinweg, über ihre Kindheit hinweg, er stieg, stieg hoch, an den anderenvorbei, grün, rot, blau, gelb, in den Himmel, im Nieselregen, stieg und steigt bis auf den heutigen Tag, während die andern Luftballons längst gelandet sind. Himmel und Erde, Schwere und Leichte, Wasser und Luft, der erste Moment, der erste Ort. – Sally hatte mit plötzlicher Klarheit gedacht: Es bin nicht ich, die dumm ist, ich hätte sowieso nicht gewinnen können.
Und jetzt, beim Bezahlen des Taxifahrers, dachte sie: Ich sollte Mama allen Ernstes wieder einmal schreiben.
Das Kulturinstitut befand sich im ersten Stock eines Wohnhauses, in einer wohlhabenden Gegend, Haus samt Inhalt und Belegschaft ziemlich imperial, und wenn man Sally fragte: Genug Verrückte, um ein ganzes Irrenhaus zu füllen.
Hier arbeitete einer gegen den andern, das galt auch für das Sigmund Freud-Dinner, für das Sally an diesem Vormittag die letzten Vorbereitungen zu treffen hatte. In unmittelbarer Nachbarschaft, im Nil Hilton, tagte ein Internationaler Kongress für Psychiatrie, aufgrund vorhandener Gelder, die ausgegeben werden wollten, hatte die Direktorin eine kulinarische Hommage an den Vater der Psychoanalyse aufs Programm gesetzt, Von Aal bis Zigarre .
Der Kulturattaché und der Kanzler hatten versucht, die Veranstaltung zu verhindern. Aus Wut, dass sie damit gescheitert waren, hatte der Attaché für diesen Vormittag eine Einführung in die maria-theresianische Kanzleiordnung angekündigt. Er behauptete, Frau Direktor und ihre Sekretärinnen besäßen nicht den leisesten Schimmer, wie ein Aktenlauf zu laufen habe.
Bis es so weit war, erstellte Sally die Sitzordnung, sieging recht willkürlich vor, da ihr die Hälfte der geladenen Gäste nicht bekannt war. Anschließend schrieb sie die Tischkarten, zuletzt machte sie eine Aufstellung der Kosten, die bisher angefallen waren. Sie fragte den für das Finanzielle zuständigen Kanzler, ob er Einwände habe.
Der Kanzler war studierter Romanist, konnte also überhaupt nicht rechnen, und hatte zehn Jahre beim Militär gedient, deshalb redete er sehr laut.
»Wofür schon wieder ein Verlängerungskabel?« schrie er. »Ich kann doch nicht alle fünf Minuten ein Verlängerungskabel verbuchen! Alles was recht ist! Was denkt Wien, wenn unsere Buchhaltung durchgesehen wird?!« Und so weiter, und so weiter. Schimpfend zog er sich zurück.
Als der Attaché zu seinem großen Auftritt in den Salon rief, war die Direktorin schon geflohen, sie hatte sich vom Fahrer zu den Norwegern bringen lassen, konkreter Anlass: fraglich. Immerhin kam auch der Kanzler wieder aus seiner Finanzstube heraus, er erhoffte sich Munition gegen die Direktorin.
Sally und Klara, die zweite Sekretärin, lieferten das Gewünschte. Sie bekannten einmütig, ziemlich ratlos zu sein. Sie hatten beide im September des Vorjahres hier angefangen, zu diesem Zeitpunkt war die eine Vorgängerin schon weg, weil zusammengebrochen, die Chefin noch im Urlaub, die andere Vorgängerin zwar da, aber ohne die geringste Lust, jemanden einzuschulen. Der Kanzler war mit seiner Scheidung beschäftigt gewesen und die Stelle des Attachés noch gar nicht geschaffen. Unter diesen Voraussetzungen hatten sich Sally und Klara die Funktionsweise desAmtes erarbeitet – sie führten es nach eigenem
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