Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
Lebensstile für erstrebenswert hält, muss |88| heute nicht mehr grundsätzlich argumentieren und schon gar nicht mehr mit großer Rebellengeste gegen die normative Macht des
Konformismus auftreten – er hat das unschlagbare Argument zur Hand, dass der postmoderne Kapitalismus von einem erfolgreichen
Wirtschaftsstandort genau das erwartet, dass heute also nicht mehr die Künstlertugenden dem Geist des Kapitalismus widersprechen,
sondern im Gegenteil die engstirnigen Vorurteile der »Normalos« gefährlich wirtschaftsfeindlich seien.
Wer den Wirtschaftsstandort fit halten will, muss also gefälligst die Boheme fördern.
Früher gab es nicht selten das Vorurteil normal beschäftigter Angestellter und Arbeiter, die Künstler würden »auf unsere Kosten«
leben. Heute stellt sich die Sache eher umgekehrt dar: Jetzt wird den Bürohengsten in Behörden und Betrieben vorgehalten,
sie trügen nicht genug zur Steigerung des Sozialproduktes bei, ganz im Unterschied zu den Kreativen, die auch noch ganz ohne
die soziale Absicherung auskommen, die Flexibilität ohnehin nur behindert.
Wie toll und wichtig die Kreativität für die Förderung des BIP ist, ist längst keine bloße Meinung mehr, denn schließlich
kann man das messen, und deshalb hat heute jedes urbane Zentrum, das auf sich hält, seinen regelmäßig aufgelegten »Kulturwirtschaftsbericht«,
in dem der Entwicklungsstand der »Creative Industries« fakturiert und bilanziert wird – und festgelegt, wie die Bedingungen
für diese Leitbranche des 21. Jahrhunderts verbessert werden können. So ist beispielsweise im kulturwirtschaftlichen Bericht
von Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2001 vermerkt, dass es im Jahr 1999 rund 47700 kulturwirtschaftliche Betriebe und Selbstständige
gab, was einem Anteil von 7,6 Prozent aller Unternehmen im Lande entsprach. Zusammen erwirtschafteten sie einen Umsatz in
der |89| Höhe von 37,9 Milliarden Euro, somit 3,6 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung. Innerhalb der drei vorangegangenen Jahre gab
es ein Umsatzwachstum von 21 Prozent – überdurchschnittlich, vergleicht man diese Zahl mit dem Umsatzzuwachs der Gesamtwirtschaft
von 10 Prozent. Die größten Teilmärkte waren Literatur-, Buch- und Pressemarkt, die Film- und Fernsehwirtschaft und die Musikwirtschaft.
Im Jahr 2000 gab es etwa 280 000 kulturwirtschaftliche Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen – ein Beschäftigungszuwachs von neun Prozent in vier Jahren
(Gesamtwirtschaft: zwei Prozent). Ȇber diese offenkundigen wirtschaftlichen Effekte hinaus erbringt die Kulturwirtschaft
wichtige Leistungen für andere Branchen. Sie ist zum Beispiel inhaltlicher Impulsgeber (z. B. für Design-Innovationen in der
Modewirtschaft), Lieferant von Produkten und Leistungen (z. B. »Content« für die Medien- und Informationsbranche) … oder sie
ist Mehrwertlieferant (z. B. Musikveranstaltung als Frequenzerzeuger für die Tourismusbranche).« Die Hauptbotschaft lautet,
dass die »Wertschöpfungsbeiträge der Kulturwirtschaft ›im Netz der Branchen‹« eher noch »unterschätzt« werden. Resümee: »Ein
kulturwirtschaftlicher Input bestimmt in beachtlichem Maße den wirtschaftlichen Erfolg anderer Branchen mit, vor allem im
Tourismus und in den designbezogenen Branchen. Die Kulturwirtschaft unterstützt Branchen bei der Positionierung in Märkten
mit zunehmender Ausdifferenzierung der Zielgruppen. Die Kulturwirtschaft hilft beim Strukturwandel von Branchen und Regionen.«
In der Studie »Kulturberufe« aus dem Jahre 2004, diesmal sogar von der deutschen Bundesregierung in Auftrag gegeben, werden
die gleichen Töne angeschlagen. Die Kulturberufe zeigten überdurchschnittliches Wachstum, die Zahl der Selbstständigen innerhalb
der Kulturberufe |90| wächst »viermal schneller als die Gesamtgruppe aller Selbstständigen innerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung« 94 . In den Creative Industries sei eine Dynamik auszumachen, die sie als »das aktuelle Anschauungsmodell der zukünftigen Entwicklung
auch für andere Berufsgruppen und Märkte« erscheinen lasse, so die Prophezeiung. Ein Urteil, zu dem die britischen Forscher
Charles Leadbeater und Kate Oakley vom Labour-nahen Think-Tank Demos schon im Jahr 1999 kamen. »The Independents«, also die
neuen Kulturunternehmen, seien »Britanniens dynamischste Industrien«, schrieben sie. 50 Milliarden Pfund würden in den Kreativindustrien
jährlich von 982 000 Beschäftigten
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