Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
umgesetzt. Möglich sei dies alles durch das Internet und die neuen Technologien geworden und habe deshalb
die Dynamik der Zeit auf seiner Seite. In der Kulturwirtschaft herrsche ein kooperativer Arbeitsstil, hier dominierten Individualisten,
die »Anti-Establishment«, »anti-traditionell« eingestellt und bereit seien, für ihre »Selbstverwirklichung« auch »Selbstausbeutung«
in Kauf zu nehmen. Kurzum: Hier wehe ein Geist der Freiheit und er bringe frischen Wind in verödete Städte. »Diese Independents
sind nicht nur eine Quelle des Wachstums und der Arbeitsplätze der Zukunft, sondern sie stellen das Modell dar, wie sich künftig
auch in anderen Sektoren Arbeit und Produktion wandeln werden.« 95
Mit anderen Worten: Die Handarbeiter sterben aus, es leben die Kreativen! Und die paar Güter, die noch manuell gefertigt werden,
könnten auch nicht an den Mann und an die Frau gebracht werden, würden sie von den Spezialisten für den schönen Schein nicht
ordentlich aufpoliert. Auch in Berlin hat die rot-rote Regierung aus SPD und Linkspartei/PDS erkannt, dass die ökonomisch
darbende Metropole nur durch strategische Innovationen in der »Crea tive Industrie« überleben kann, eine Chance, die umso |91| verlockender ist, als es in Berlin, ohne großes Zutun der Politik übrigens, nur so von kreativen Leuten wimmelt, die bis obenhin
prall mit Ideen gefüllt sind. »Kreative Ideen gibt es genug, aber das unternehmerische Knowhow fehlt oft«, so der Berliner
PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf.
Zwar hat Berlin zurzeit kein Geld, aber viel Kreativität, was sich, so die implizite Prognose, auf lange Frist auch in bare
Münze übersetzen wird. »Arm, aber sexy«, lautet das Motto.
Dass das enorme Potential der »Creative Industries« genützt werden müsse, gehört heute schon zu den Ratschlägen, die mit besonderem
Nachdruck von den wirtschaftsliberalen Think-Tanks an die Politik herangetragen werden. Es gäbe einen überdurchschnittlich
hohen Anteil von Creative Industries in Wien, sagt etwa Hannes Leo vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung.
»Es gibt aber kaum Unternehmensstrukturen in diesem Bereich. Gekoppelt mit der Reputation, die Wien in diesem Sektor bereits
hat, und den Möglichkeiten der neuen Medien, bietet sich für die Wiener Stadtpolitik an, die Wirtschaftskraft dieses Sektors
zu entwickeln. Die Professionalisierung und Kommerzialisierung dieses Sektors«, so Leo, dürfte freilich »die künstlerische
Freiheit oder die Kreativität« nicht einschränken – die Strategie dürfe nicht sein, »aus Kunst Kommerz zu machen«.
Auf welch mirakulöse Weise das verhindert werden soll, sagte er nicht dazu. Denn natürlich wäre es blauäugig anzunehmen, der
Jargon der Wirtschaftlichkeit hätte keine Auswirkungen auf die Künste, die Rahmenbedingungen, unter denen Künstler arbeiten
– und auf ihre Lebenswelten. Die Kunst selbst wird etwa zu einem Vehikel städtischer Aufwertungsprozesse, für das, was die
Städteplaner »Gentrification« nennen – den Bevölkerungsaustausch in |92| einstmals heruntergekommenen Quartieren, aus denen die Unterprivilegierten weggemobbt werden und in die kaufkräftige, stilbewusste
urbane Mittelschichten einziehen. Damit fällt der Sauerteig, den ein avanciertes künstlerisches Milieu braucht, in sich zusammen.
Ob im Prenzlauer Berg, in Berlin-Mitte oder im Schleifmühlviertel in Wien, überall gilt: »Was als Suche von Künstlern nach
billigen Atelierräumen und einer ›authentischen‹ Umgebung begann, zog unweigerlich Galerien und schließlich Bars, Cafés und
Designgeschäfte an, die vom kreativen Image der Gegend profitieren wollen.« 96 Das Resultat sind Quartiere mit hoher Lebensqualität, in denen aber sehr schnell all das auf Messers Schneide steht, was
sie ursprünglich möglich machte: Für Experimente ist der Wohnraum bald zu teuer, der Zuzug versiegt, eine neue Generation
von Kreativen sucht sich ein neues Viertel, das heute ein Geheimtipp, morgen hip und übermorgen der Magnet zahlungskräftiger
Touristen aus aller Welt ist. Es ist ein ständiges Nomadentum, ein ewiges Im-Kreis-Gehen, wie Moses’ vierzigjähriger Zug durch
die Wüste. Nur dass heute das gelobte Land erreicht wird, aber immer wieder auf wundersame Weise unter den Füßen verlorengeht.
All das hat gelegentlich recht kuriose und skurrile Seiten. Als der avancierte Wiener Musik-Subkultur-Schuppen »Fluc« hip
wurde,
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