Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
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wurde. Bloße biologische Existenz wird vielleicht von Päpsten und Zellbiologen als »Leben« bezeichnet, nicht aber von |81| den Männern und Frauen des Geistes. »Lebst Du schon?«, konnte demnach auch zu einer Frage werden, die polemisch gegen jene
gerichtet wurde, deren enger Horizont sich auf Arbeiten, Verdienen, Konsumieren beschränkte. Kurzum: Der Bohemien war das
Antimodell zum gewinnorientierten Wirtschaftsbürger. Die französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello
haben in ihrer monumentalen Studie »Der neue Geist des Kapitalismus« herausgearbeitet, dass den Kapitalismus während seiner
gesamten Entwicklung nicht nur antikapitalistische Kritik »wie sein Schatten« 85 begleitete, sondern dass es zwei Kritiken waren, die manchmal mehr, manchmal weniger miteinander verbunden vorgetragen wurden:
die Sozialkritik und das, was sie die »Künstlerkritik« nennen. Während die Sozialkritik allen Ton auf die Ungerechtigkeit,
die ungleiche Verteilung, die Not der Arbeitenden legte, hatte die Künstlerkritik ihren eigenen Sound. Sie verdammte den Kapitalismus
»als Quelle der Entzauberung und der fehlenden Authentizität der Dinge« 86 , beklagte, dass das Fabriksystem, die Hierarchien und der Trott im Büro die Selbstverwirklichung der Menschen verhinderten,
ihre Kreativität verkümmern ließen und ganz allgemein ein Feind der Freiheit seien. Authentizität, Kreativität, Originalität,
Freiheit waren die Schlüsselvokabeln dieser Kritik. Künstlerkritik nennen Boltanski und Chiapello diese Kritik deshalb, weil
die Tugenden und Charakteristika des freien Künstlers der unfreien, entfremdeten Arbeit im Kapitalismus positiv entgegengesetzt
wurden – als Modell für eine bessere Art zu leben, wie sie eine bessere Gesellschaft für alle garantieren würde.
Der Künstler galt also seit jeher als das große Andere des Wirtschaftsbürgers. Umso erstaunlicher ist, dass neuerdings der
Künstler in einer kuriosen Volte als Exempel für das moderne Wirtschaftssubjekt präsentiert wird. |82| Heute gelten die Tugenden des Künstlers – die früher aus der Managementperspektive nichts als Untugenden waren – als wesentliche
Voraussetzungen, will man wirtschaftlich Erfolg haben. Geistige Ungebundenheit, Offenheit für Neues, Fantasie, Spiel, Improvisationsfähigkeit,
atypisches Verhalten und sogar kreative Anarchie – sie sind das, was heute vom neuen, zeitgemäßen Arbeitnehmer erwartet wird
und vom »neuen Selbstständigen« sowieso. Diese »zentralen Werte der Künstlerkompetenz« 87 , schreibt der Pariser Soziologe Pierre-Michel Menger, werden nach und nach auf alle Produktionsbereiche übertragen. Die Symbolanalytiker
und Zeichenspezialisten, die kulturkompetenten Wissensarbeiter werden zur Avantgarde der Wirtschaftssubjekte und zum Kern
einer »krea tiven Klasse«. Schöpferischer Erfindungsgeist wird zum Motor betriebswirtschaftlicher Innovation in den hippen Kleinunternehmen
der »Kreativwirtschaft« – und über diese hinaus. Menger: »Die romantische Vorstellung des rebellischen und subversiven Künstlers
gehört der Vergangenheit an. Jetzt gilt der schöpferische Mensch als modellhafte Figur des neuen Arbeitnehmers. … Die aus
dem 19. Jahrhundert ererbte Vorstellung, die den Idealismus und die Selbstaufopferung des Künstlers gegen den berechnenden
Materialismus und die Arbeitswelt ausspielte und der Figur des originellen, provozierenden und rebellischen Künstlers die
Gestalt des konformistischen und spießbürgerlichen Bourgeois entgegenhielt, hat ausgedient.« 88 Und mit den Künstlertugenden begannen sich auch die formalen Merkmale der Kulturberufe in anderen Berufsgruppen zu verbreiten:
Flexibilität, Mobilität, kurzfristige Engagements, chronische Unsicherheit.
Aus der Forderung nach der Einheit von Kunst und Leben wurde die Einheit von Kunst und Wirtschaftsleben.
Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Für Menger ist |83| die Propagierung des »freien«, »kreativen« Arbeitnehmermodells – mit seinen Spielarten von Scheinselbständigkeit, Projekt-
und Teilzeitarbeit – der mächtige Modus, wie die sozialen Wohlfahrtsökonomien des Westens in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive
ungleicher gemacht wurden. Das Hohelied auf die Kreativität sei also strategisch raffiniert angestimmt worden – von den ökonomisch
Mächtigen, in deren egoistischem Interesse, und die meist jugendlichen
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