Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alles was du wuenschst - Erzaehlungen

Titel: Alles was du wuenschst - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
Aber es war ein sehr langsames Rad. Wenn man scharf nachdachte, flog auch ein Fahrrad von dem Auto weg, wobei das Pedal über den Asphalt schabte und Funken sprühte. Aber man musste schon sehr scharf nachdenken, um sich an das Fahrrad zu erinnern. Was wirklich haften blieb, waren die weißen Socken des Mädchens und der Faltenwurf ihres Trägerrockes, der ihr durch die Luft folgte.
    Am nächsten Tag gingen Gerüchte über ein Verkehrsunglück um, und heute sagt mir mein Gedächtnis, dass
das Mädchen starb, damals aber verschwieg man uns das, um uns nicht zu beunruhigen. Ich weiß nicht, was davon stimmt. Damals gab es nur uns beide auf der leeren Straße, ein Mädchen, das sein langsames Rad schlug, sowie meine Hand, die nach Serenas kleiner Hand griff und sie schweigend weiterzog.
    Das war der eine Vorfall. Ein weiterer – vielleicht war sie acht und ich zwölf – ereignete sich, als ein Mann in einer bunt karierten Hose »Hallo, ihr Süßen!« sagte und sein Ding aus dem Hosenschlitz holte. Vielleicht sollte ich sagen, dass er sein Ding entkommen ließ, denn irgendwie schoss es geradezu hervor und rollte sich auf eine Art zusammen, die ich heute wohl wiedererkennen würde. Damals sah es aus wie Gekröse, von der Farbe alten Blutes, dunkel und gekocht, wie der Teil des Truthahns, den unsere Eltern so gern aßen und den sie »Pfaffenstück« nannten. Wir rannten also ganz aufgeregt nach Hause und erzählten meiner Mutter von dem Mann in der bunt karierten Hose und dem Pfaffenstück, und sie lachte, was wohl die angemessenste Reaktion war. Unter den damaligen Umständen. Wir hatten dieselben drei Brüder, die alle gerade die eine oder andere Phase durchliefen. Nichts Ungewöhnliches – obwohl das Jahr, in dem Jim sich nicht waschen wollte, ziemlich anstrengend war. Sehen Sie, ich kratze den schäbigen Rest zusammen. Wir hatten eine großartige Kindheit. Und unterm Strich geht’s mir gut. Mir geht’s gut, und Serena lebt nicht mehr.
    Aber das Jahr, das ich meine, ist das Jahr 1981, als ich mein Studium beendete und anfing zu arbeiten. Ich hatte Geld, kaufte mir Klamotten und war völlig zufrieden mit
mir. Ich dachte sogar daran, von zu Hause auszuziehen, aber meine Mutter fühlte sich einsam, wo wir doch alle erwachsen wurden. Sie sagte, sie höre die Flöhe husten, und redete vom Altwerden. Sie weinte öfter; dann und wann weinte sie sich einfach aus – nicht über ihr Leben, sondern über das Leben im Allgemeinen.
    Als ich eines Tages nach Hause kam, war Serena in Ungnade gefallen, weil meine Mutter Zigaretten an ihr gerochen hatte und noch etwas anderes. Ich hatte keine Ahnung, was dieses andere sein mochte; nach Alkohol roch sie jedenfalls nicht – vielleicht war es Sperma, das hätte mich nicht überrascht. Es waren noch drei Wochen bis zu ihrer Reifeprüfung, und Serena verwüstete unser Schlafzimmer, während meine Mutter in der Küche stand – seltsamerweise im Mantel – und Karotten schnipselte. Ich ging in die Küche und setzte mich eine Weile zu Mama, und als oben endlich Ruhe eingekehrt war, ging ich hinauf, um den Schaden zu begutachten. Überall Klamotten. Ein Vorhang heruntergerissen. Mein Wecker zertrümmert. Ein Parfumfläschchen geköpft – eine Lache Chanel Nr. 5, die in unsere Kommode sickerte. Zu der Zeit hatte ich einen Freund. Das Zimmer stank. Ich bekam keinen Tobsuchtsanfall. Ich sagte: »Berappel dich, du Hirni, der Alte kommt gleich.«
    Keiner von uns mochte unseren Vater, außer Serena, die ihn von klein auf um den Finger gewickelt hatte. Ich glaube, nicht mal meine Mutter mochte ihn – natürlich sagte sie, sie »liebe« ihn, aber nur, weil sich das so gehört, wenn man jemanden geheiratet hat und mit ihm schläft. Von einem Unfall in seiner Kindheit hatte er ein steifes
Knie, und wenn er sich hinsetzte, ragte sein Bein kerzengerade ins Zimmer. Er war kein schlechter Kerl. Aber wenn wir brüllten und lachten und stritten, hockte er nur da und starrte uns an, als wären wir alle furchtbare Langweiler.
    Oder vielleicht mochte ich ihn ja damals, aber seitdem nicht mehr – denn als Serena weg war, übernahm er die Leitung eines Pubs und schlief in der Wohnung darüber. Also noch einer, der nie nach Hause kommt.
    Drei Wochen lang stank das Schlafzimmer nach Chanel, wir redeten kein Wort miteinander, und Serena aß nichts. Während der Mathematikprüfung wurde sie ohnmächtig und musste hinausgetragen werden, und auf dem Fußboden im Gang fächerten ihr’ne ganze Menge Leute Luft

Weitere Kostenlose Bücher