Alles was du wuenschst - Erzaehlungen
hin; in unseren guten Mänteln gingen wir zur Tür hinaus, als wollten wir zur Messe. Wir nahmen auf Plastikstühlen Platz: mein Vater mit seinem lautlos ausgestreckten Bein, meine Mutter in einem Wust von Sorgen. Sie hörte kaum zu, oder sie klammerte sich verzweifelt an irgendeine Albernheit. Serena saß gelangweilt da. Ich konnte nicht anders, ich verlor die Geduld. Ich schrie sie tatsächlich an. Ich sagte, sie solle sich schämen, was sie Mama zumute. »Schau sie dir an«, sagte ich. »Sieh doch!« Ich sagte, hoffentlich sei sie endlich zufrieden mit sich. Sie saß nur da und hörte sich alles an, dann beugte sie sich vor und sagte sehr überlegt: »Wenn mich ein Bus über den Haufen fährt, würdest du sagen, ich wollte nur die Aufmerksamkeit auf mich lenken.« Da musste ich an den Autounfall denken, als sie noch klein war. Vielleicht hätte ich ihn erwähnen sollen, aber ich unterließ es. Mitten in diesem Familienstreit saß Brian, der offizielle Freund, er hatte die Beine gespreizt, und im Schritt baumelten seine großen Hände. Nach der Sitzung führte er sie aus dem Zimmer, indem er ihr seine Hand ins Kreuz legte, ganz so, als wäre er ihr Beschützer und hätte keinen Anteil an alledem.
Es dauert Jahre, bis Magersüchtige sterben, das ist die andere Sache. Während der ersten Therapiephase wurde entschieden, es sei besser, wenn Serena von zu Hause auszöge. Ob es eine andere Familie gebe, bei der sie eine Weile wohnen könne? Schön wär’s. Als ob meine Eltern einen Haufen fröhlicher Freunde mit Gästezimmern hätten, die Serena hinterherräumen und ihr das Badezimmer überlassen würden, während sie sich jeweils drei Stunden lang darin einschließt. Wir besorgten ihr ein möbliertes Zimmer in Rathmines, und ich kam für die Miete auf. Andernfalls hätte meine Mutter eine Teilzeitarbeit annehmen müssen.
So lebte Serena jetzt also mein Leben. Sie hatte meine Wohnung, meine Freiheit und mein Geld. Es mag sich seltsam anhören, aber damals gönnte ich ihr das durchaus. Ich wollte nur, dass es ein Ende hatte. Ich meine, ich wollte nur, dass meine Mutter wieder lächeln konnte.
Fünf Monate später wog sie nur noch achtunddreißig Kilo und einhundert Gramm, und als sie auf der Straße zusammenbrach, landete sie wieder auf der Station. Ich rechnete damit, Brian zu sehen, aber sie erklärte, den habe sie zum Teufel gejagt. Ich ging zu ihrer Wohnung, um ein paar Sachen für sie zu holen. Es wimmelte von leeren Paracetamol-Packungen und benutzten Papiertaschentüchern, die wegzuwerfen ihr zu lästig gewesen war. Sie klebten in Klumpen zusammen. Ich weiß nicht, was sie enthielten – Reinigungsmilch? Vielleicht hatte sie hineingespuckt, vielleicht ärgerte sie sich über ihren Speichel. Ich musste mir Gummihandschuhe kaufen, um sie aufzuheben, aber ich habe nie jemandem davon erzählt,
dem Therapeuten nicht, dem Arzt nicht, meiner Mutter nicht. Aber jetzt konnte ich etwas in ihrem Gesicht erkennen, als gäbe es ein Geheimnis, das wir gezwungenermaßen teilten.
Im Geiste durchforstete ich ihr Leben. Jeden Dienstagabend vor der gottverdammten Therapiesitzung fahndete ich nach Erinnerungen: eine Katze, die gestorben war, der Tod meiner Großmutter, der Weihnachtsmann. Ich ging die Ferien im Wohnmobil durch und die Besteigung des Carrauntouhill, bei der sie auf halbem Weg zu heulen angefangen und sich hingesetzt hatte und bis zum Gipfel getragen werden musste. Ich rief mir ihre erste Blutung in Erinnerung und wie ich sie zusammenstauchte, weil sie meinen Mohairpullover gestohlen hatte. Wie sie mit einer Dose Fliegenspray ein nachmittägliches Gemetzel angerichtet und wie sie auf dem lädierten Bein meines Vaters Hoppe, hoppe Reiter gespielt hatte. Es waren alles nur Erinnerungsfetzen. Ich wollte sie zu einem Gesamtbild zusammenfügen, aber es gelang mir nicht.
Sie päppelten sie ein bisschen auf und ließen sie dann gehen. Ein paar Monate später erhielten wir eine Postkarte aus Amsterdam. Ich habe keine Ahnung, wo sie das Geld herhatte. Die Wohnung war bis Weihnachten bezahlt, und ich hätte selbst dort einziehen können, aber ein Blick auf meine Mutter genügte. Mit nichts hätte ich sie stärker gekränkt.
Eines Tages erblickte ich dann auf der Straße eine Frau, die aussah wie meine Oma kurz vor ihrem Tod. Einen Augenblick lang glaubte ich wirklich, sie wär’s: Zehn Jahre danach auf irgendeine Weise aus der Sterbeklinik
entlassen, ging sie in Richtung St. Stephen’s Green. Ich glaubte sie tot und
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