Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
kultivierten Betragens verbirgt«, schreibt er. Und dies: »Der Ausdruck in Ihrem Gesicht an jenem Morgen, der nun schon so viele Jahre zurückliegt, ist mir zu einer Art Vorbild geworden, an dem ich meine Zuneigung zu jeder Frau messe, der ich mich nahe fühle, und ebenso die Zuneigung jeder Frau zu mir. Sie zählen für mich zu den glücklichsten Menschen, da es Ihnen gegeben war, einem anderen so starke Gefühle entgegenzubringen, ganz gleich, wie traurig der Ausgang war. Denn ist nicht das der Sinn unseres Daseins? «
Wir können nur versuchen, uns vorzustellen, was an jenem »schneereichen Morgen« in Exeter geschehen ist. Hatte Etna Samuel zu Hause aufgesucht, um eine Aussprache herbeizuführen? Um ihm mitzuteilen, daß sie ihre Verlobung mit dem Mann aus Brockton gelöst habe? Warum war es notwendig, Samuel zu Hause aufzusuchen? Hatte er sich bereits aus der Beziehung zurückgezogen? War er im Begriff, nach Kanada abzureisen? War er mit einer anderen Frau verlobt? Und was genau war das für eine »unglückliche Episode« im Haus der »großen Familie« in Exeter? Hat es Liebesschwüre gegeben? Tränen? Warum hält Phillip Asher es Jahre später für notwendig, sich für das Verhalten seiner Familie zu entschuldigen? Oder meint er mit Familie allein seinen Bruder?
Ich habe mir die Geschichte genau ausgemalt. (Sind nicht imaginäre Ereignisse manchmal realer als solche, bei denen man anwesend ist?) Es ist der Sommer 1896. Etna, gerade dreiundzwanzig Jahre alt, ist mit einem Mr. Bass aus Brockton, Massachusetts, verlobt, sagen wir, einem Mr. Josiah Bass, einem älteren Mann, vielleicht sechs- oder achtunddreißig. Etna liebt diesen Mann nicht, aber sein Vermögen (aus der Schuhfabrikation) verheißt ihr eine gewisse Freiheit, die, wie wir heute wissen, für Etna Bliss von größter Wichtigkeit ist, auch wenn sie selbst sich dessen noch gar nicht bewußt ist.
Nun tritt Mr. Samuel Asher auf den Plan, großgewachsen wie sein Bruder, siebenundzwanzig Jahre alt, Lehrer an der vorbereitenden Privatschule, mit – das ist reine Vermutung – hoher Stirn (einer Andeutung von Geheimratsecken vielleicht?), einem blonden Bart und abfallenden Schultern. Er hatte kürzlich Anlaß, Etnas Vater, Thomas Bliss, aufzusuchen, einen gebildeten und toleranten Mann, der sich nicht scheut, einen Juden in sein Haus zu bitten – schon gar nicht einen englischen Juden. (Oder weiß Bliss ganz einfach nicht über Samuel Asher Bescheid, der vielleicht seit Jahren als Mitglied einer Episkopalkirche galt?) Ging es um ein gemeinsames Seminar über Navigationskunde? Um ein Forschungsprojekt? Wir wissen es nicht.
Zwei- oder dreimal ist es vorgekommen, daß Etna und Samuel sich allein im Salon der Familie Bliss befanden, während Etnas Vater sich um andere Dinge kümmerte, und sie haben entdeckt, daß sie verwandte Seelen sind. (Sprechen sie über Astronomie? Nein, wahrscheinlich nicht.) Sie haben mindestens einmal mit Samuels Vater und seinem jüngeren Bruder Phillip zusammen Tennis gespielt. Samuel und Etna freuen sich auf ihre Begegnungen und verstehen es, sie herbeizuführen. Samuel Asher, der sich über alle Vernunft zu dieser aparten Tochter Thomas Bliss’ hingezogen fühlt, obwohl er mit Ardith Silver aus Toronto in Ontario verlobt ist, einer Frau, die er kennenlernte, als sie mit ihrer Familie noch in Exeter lebte, bringt es fertig, selbst dann der Familie Bliss Besuche abzustatten, wenn er weiß (aber vorgibt, es vergessen zu haben), daß Thomas Bliss anderswo zu tun hat. (Wir wollen Samuel keine niedrigen Motive zuschreiben und unterstellen, daß er nur weibliche Gesellschaft sucht, weil seine zukünftige Frau nicht verfügbar ist.) Eine Sommerbekanntschaft entwickelt sich im Lauf des Herbstes zur Freundschaft und verwandelt sich noch vor Weihnachten schnell in etwas, was Leidenschaft sehr ähnlich ist.
Und am Heiligen Abend sucht Samuel Asher die Familie Bliss auf, um ihr Feiertagswünsche zu entbieten. Thomas, der noch keine Ahnung von der heimlichen Zuneigung seines verlobten jungen Freundes zu seiner ebenfalls verlobten Tochter hat, nimmt ihn mit offenen Armen in seinem Haus auf. Etna befindet sich mit ihrer Mutter und Miriam im Salon (Pippa ist bereits verheiratet und lebt in Massachusetts), wo sie letzte Hand an den beeindruckenden Weihnachtsbaum legen, der in der nächsten Stunde angezündet werden wird. Auf der Kredenz steht eine Kristallschale mit Punsch, der reichlich Rum enthält. Etna trägt ein pflaumenfarbenes
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