Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
schockiert ist über dieses Melodram. Sie errät sofort den Grund des Besuchs und der Tränen und erklärt in frostigem Ton, daß sie sich um die junge Frau kümmern werde (wobei die Frostigkeit ganz deplaciert ist, da sie selbst eben noch in ihrem Schlafzimmer gesessen und bei dem Gedanken an die bevorstehende Abreise ihres Lieblingssohns geweint hat). Etna, die sich plötzlich mit Entsetzen bewußt wird, in was für eine Situation sie sich gebracht, wie tief sie sich erniedrigt hat, macht kehrt und reißt die Tür auf. Samuel kuscht (was ihm die lebenslange Verachtung seines jüngeren Bruders einträgt), sagt nichts und läßt Etna gehen. Phillip, im ersten Moment wie gelähmt, dann von einem heftigen Impuls getrieben, der ungewöhnlichen, wenn auch nicht unbedingt schönen Frau zu helfen, stürzt zur Tür und auf die Straße hinaus. Aber als er das Ende des Gehwegs erreicht, ist Etna verschwunden.
Wie gesagt, das alles ist meine Phantasie.
Aber wie ärgerlich diese Briefe letztlich doch sind! Zunächst bewundert man Phillip Asher (über achtzehn Jahre später) für sein Angebot, seine Bewerbung um den Posten am Thrupp College Etna zuliebe zurückzuziehen – wie ritterlich , denkt man –, aber die Bewunderung erhält einen Dämpfer, wenn er sich wenig später willig Etnas Ablehnung seines Angebots fügt (wobei sie allerdings ganz recht hatte mit ihrer Ablehnung). Schon in dem Brief vom 21. Oktober wird die Saat der Täuschung gesät: Asher berichtet, daß er im Hotel mit mir zusammengetroffen ist, mich aber nicht hat wissen lassen, daß er früher einmal mit meiner Frau bekannt war. Am 22. Oktober, in dem Schreiben, dem wir auch entnehmen, daß Etna verlobt war, läßt sie die Täuschung weiterkeimen: »… sehe ich keinen Grund, mit ihm (das heißt, mit mir, N.VT.) über eine Episode zu sprechen, die so lange zurückliegt.« Man kann nicht umhin, sich zu fragen, welche gedanklichen Freiheiten sich der Mann aus Yale daraufhin herauszunehmen berechtigt fühlte, ob dies ihn nicht veranlaßt hat, an eine gemeinsame Zukunft mit einer Frau zu denken, die ihn immerhin schon seit Jahren fasziniert. Wie unglaublich, daß die geheimnisvolle Frau, der er in Exeter vergeblich nachgejagt war, nun plötzlich auf Edward Feralds Empfang vor ihm gestanden hat. (Eigentlich gar kein so ungewöhnliches Zusammentreffen, könnte man sagen. Beide stammten schließlich aus Akademikerfamilien, und Thrupp war ein Akademikerstädtchen.)
Der Austausch von Kondolenz- und Dankschreiben, der folgt, ist absolut akzeptabel und hält sich durchaus in den Grenzen der Etikette, wenn man sich auch fragt, warum Phillip es für nötig hielt, sich für sein Nichterscheinen zur Beerdigung zu entschuldigen. Mir klingt das wie ein offenkundiger Vorwand, den Briefwechsel weiterzuführen. Und man beachte, wie auch Etna in ihrem Schreiben vom 18. November eine Antwort von Asher erbittet. »Ich würde mich freuen zu hören, wie es ihm (Phillips Bruder) geht«, schreibt sie und unterzeichnet den Brief mit Etna Bliss Van Tassel. Warum? Um bei Asher Erinnerungen an die junge Frau zu wecken, die sie einmal war?
Und warum meint Asher am 24. November, er würde sich gern mit Etna »besprechen«, bevor er meine Einladung zu einem Drink annimmt? Um sich darüber zu einigen, wie man die Täuschung aufrechterhalten kann? (Das Wort Ultimatum ist mir ein großes Ärgernis. Ich hasse Übertreibungen. Mein Milton-Zitat war allenfalls eine Warnung.)
Niemand, der diese Briefe liest, kann bestreiten, daß sich zwischen meiner Frau und Phillip Asher mehr entwickelte als gewöhnliche Freundschaft. Schon bald beginnt man wahrzunehmen, daß Asher in seinen Briefen zwischen den Zeilen heftig, wenn auch im Rahmen des Schicklichen, mit Etna flirtet. »Sie sind mit den Jahren nur schöner geworden.« Wozu war diese Schmeichelei notwendig? Obendrein in ebendem Brief, in dem er erklärt, wie unschicklich es sei, ihr weiterhin zu schreiben! Es ist ganz klar, daß Asher die Beendigung der Korrespondenz auf keinen Fall wünscht; er wartet nur darauf, daß Etna die Verantwortung dafür übernimmt. Und man versteht natürlich Etnas in dem Schreiben vom 27. November geäußerte Weigerung, sich vom jüngeren Bruder ihres früheren Liebhabers Vorschriften machen zu lassen; dennoch hat Asher recht, wenn er in seinem Brief vom 29. November schreibt, daß sie mit ihrem Briefwechsel eine Grenze vielleicht nicht des Anstands, aber doch des ehelichen Vertrauens überschreiten. Das
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