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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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unaufhörlich. Und wenn sie kommt, wird sie dann mit mir sprechen? Normalerweise würde ich sagen, nein, denn sie lebt nun seit achtzehn Jahren bei ihrer Tante und hat in der ganzen Zeit nie etwas von sich hören lassen. Aber das menschliche Herz ist ein geheimnisvolles Ding, und vielleicht hat Clara mir vergeben.
    Wie kann das Leben einfach weitergehen, wenn so vielen Menschen unrecht geschehen ist?

 
    JETZT BLEIBT NUR NOCH EIN KAPITEL meiner Geschichte, und das ist gut so, denn bald werden wir West Palm Beach erreichen, das Ziel meiner Reise. Die Fahrt hat etwas länger gedauert, als ich dachte (mehr als drei Tage infolge der Entgleisung bei New Haven und der Fälle von Lebensmittelvergiftung in Richmond; eigentlich hätte sie nur dreißig Stunden dauern sollen), und ich werde wohl von Glück reden können, wenn ich rechtzeitig zur Beerdigung komme; sie ist auf Wunsch meiner Schwester, die mich gern dabeihaben wollte, ohnehin schon hinausgeschoben worden. Ich war gerührt von Meritables Wunsch, als ich davon aus Berthes (eine meiner Schwestern) Telegramm erfuhr. Er bewog mich, die Reise auf mich zu nehmen, was ich sonst vielleicht nicht getan hätte. Es tat mir gut zu erfahren, daß Meritable sich ein wenig Zuneigung für mich bewahrt hatte, obwohl sie so stark mit Clara verbunden war. Vielleicht war es Meritables Absicht, Clara und mich nach ihrem Tod zusammenzuführen, weil sie hoffte, wir würden uns dann aussöhnen.
    Ich hätte mich heute morgen nach dem Frühstück gern in den Bibliothekswagen gesetzt, am liebsten in die Zeitschriftenabteilung, weil ich in diesem rollenden Kokon das Gefühl habe, völlig vom Weltgeschehen abgeschnitten zu sein.
    Ich habe beinahe ununterbrochen geschrieben, seit ich in White River Junction den Zug bestiegen habe, und bin in drei Tagen durch vierundsechzig Jahre persönlicher Geschichte gereist.
    Es war ein heikles Unternehmen, weit gefährlicher, als ich es mir je vorgestellt habe.
    Sobald Etna ihren Brief erhalten hatte – den gleichen Brief, den ich an Frank Goodspeed, den Collegepräsidenten, und Merrill Gates, den Leiter der Polizeidienststelle, geschrieben hatte –, kam sie in die Holyoke Street.
    Mit Clara zusammen begaben wir uns in den Salon. Etna setzte sich nicht, trotz wiederholter Aufforderungen von meiner Seite. Sie hielt den Brief in der Hand, als hätte sie ihn die ganze Fahrt von Drury hierher nicht aus den Fingern gelassen. Ich hatte aufgeatmet, als ich den grün-goldenen Landaulet vor dem Haus anhalten sah. Ich wußte, daß sie kommen würde. (Ich hatte den Zeitpunkt ihres Eintreffens auf die Viertelstunde genau vorhergesagt.)
    »Ist das wahr?« fragte sie die zitternde Clara, die, wie ich mit ihr vereinbart hatte, nach der Schule in die Holyoke Street zurückgekehrt war.
    Clara, die nur die Familie wieder vereint sehen wollte, sagte, ja, es sei wahr, Mr. Asher habe sie berührt.
    »Wie? Wie hat er dich berührt?« fragte Etna. Ihre Stimme und ihr Blick waren scharf.
    Ich behielt meine Tochter aufmerksam im Auge. Dies würde eine echte Probe für sie sein, ihre schwierigste Prüfung. Einen langen Moment standen wir in einem niedergedrückten Dreieck beisammen und atmeten langsam im Einklang, während Nicky in Abigails sicherer Obhut war. Clara berührte ihren Busen, ein leichter dreifingriger Strich über die Seite ihrer Brust, der beinahe obszön war auf der weißen Bluse ihrer Schuluniform. Es war eine atemberaubende Geste, sowohl in ihrer Aussage wie als Bild an sich – ein junges Mädchen, das sich selbst vielleicht nie zuvor auf diese Art berührt hatte und es jetzt so öffentlich tat. Etnas Gesichtszüge gefroren unter diesem Eindruck. Und in unbewußter Nachahmung strich meine Frau sich selbst mit den Fingern über die Brust, als wollte (oder müßte) sie fühlen, was Clara gefühlt hatte.
    Clara wurde rot. Sicher hätte sie am liebsten wie bei einem Kinderspiel laut gerufen: »Ätsch-bätsch, reingefallen!« Aber sie mußte an ihrer Rolle festhalten, der Text war gesprochen, die undenkbare Geste ausgeführt. Jetzt abbrechen, hieße alles verlieren.
    »Wann war das?« fragte Etna so leise, daß die Worte kaum zu verstehen waren. Sie nahm ihren Autohut ab und ließ ihn zu Boden fallen.
    »Nach der Schule«, antwortete Clara. »Als du beim Einkaufen warst.«
    »Einmal?«
    »Dreimal«, sagte Clara, Ashers Schicksal mit einer Zahl besiegelnd. Mit einer Zahl, die ich ausgesucht hatte, weil sie vernichtend war und plausibel.
    »Dreimal«, wiederholte

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