Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
am Himmel schöner als auf Erden.«
»Ach, das macht nichts«, sagte sie. »Lieber nasse Stiefel, als aus Mangel an frischer Luft und Bewegung an Körper und Geist zu vertrocknen.«
»Da haben Sie recht«, stimmte ich zu. »Sie haben sich eingeengt gefühlt?« erkundigte ich mich scheinheilig (ich, der sie nur befreien wollte, um sie in Besitz zu nehmen).
»Meine Tante und mein Onkel sind wirklich sehr lieb, und ich könnte mir keine bessere Gesellschaft wünschen, aber ich bin neu hier und habe noch keine Gelegenheit gehabt, selbst Bekanntschaften zu schließen und etwas zu unternehmen.«
»Das tut mir leid«, sagte ich, obwohl es in keiner Weise stimmte.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, und unser Spaziergang war eine beschwerliche und schmutzige Angelegenheit. Ich verspürte die feine Verlegenheit, die mit einer törichten Entscheidung einhergeht, als wir immer wieder getrennte Wege gehen mußten, um dann wieder zusammenzukommen. Nur hier und dort war die Straße von einem gewissenhaften Yankee freigeschippt worden, und wir konnten eine Zeitlang nebeneinander gehen.
»Es ist entsetzlich«, sagte sie, »daran zu denken, was die Opfer des Brands durchgemacht haben.«
»Man kann sich das nicht vorstellen«, erwiderte ich.
»Ich war ganz überrascht über die Geschwindigkeit, mit der das Feuer sich ausbreitete. Es ist ein Wunder, daß nicht mehr Menschen umgekommen sind.«
»Ja, in der Tat.«
»Es ist merkwürdig, wie der Schock auf Körper und Seele wirkt, nicht wahr?« fragte sie. »Ich war am Abend des Brands ruhiger als am nächsten Morgen beim Erwachen. Da haben mir die Hände gezittert, und ich mußte mich noch einmal zu Bett legen.«
»Diese Reaktion ist nicht ungewöhnlich«, sagte ich, abgelenkt von Gedanken an Etna Bliss im Bett. Trug sie wohl ein seidenes Nachthemd? War ihr Bettzeug zerwühlt? Ihr Haar in Unordnung?
Sie blieb einen Augenblick stehen. »Professor Van Tassel«, sagte sie unvermittelt, »ich möchte mir das Hotel ansehen.«
»Es ist nur noch ein häßlicher Trümmerhaufen«, wandte ich ein.
»Trotzdem.«
Sie gab nicht nach, und ich hatte den Eindruck, daß sie nicht umzustimmen wäre. Behutsam drehte ich sie also in die andere Richtung, und wir gingen in unbehaglichem Schweigen weiter. Während ich plump durch Schnee und matschige Furchen stapfte, schien Etna knapp über dem Boden zu schweben, eine weibliche Kunst der Fortbewegung, deren kein Mann fähig ist.
Bezeichnenderweise warf keiner von uns einen Blick auf das Bliss-Haus, als wir daran vorüberkamen.
»Was unterrichten Sie am College?«
»Von allem ein bißchen. Englische Literatur von Chaucer aufwärts.«
»Dann verbringen Sie wohl Ihre Zeit in der Gesellschaft von Spenser, Milton und Swift«, sagte sie. Und diesem Kommentar entnahm ich, daß Etna Bliss eine gewisse Bildung genossen hatte (an einer höheren Schule?, als Autodidaktin?).
»Ich verbringe meine Zeit eher in Gesellschaft vieler stumpfsinniger und unruhiger Studenten, fürchte ich.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Professor Van Tassel. Das Niveau der Studenten in Thrupp liegt doch gewiß weit über dem Durchschnitt.«
»Vielleicht haben Sie recht, Miss Bliss. Vielleicht sind nur die Lehrer mit der Zeit stumpfsinnig und unruhig geworden.«
»Aber Sie kann doch niemand als stumpfsinnig bezeichnen«, entgegnete sie höflich. Ach, wie mein Herz lachte bei diesem ersten Kompliment über meine Person, auch wenn es vielleicht nur der Anstand diktiert hatte.
»Rechnen Sie mit einer schnellen Abwicklung des Nachlasses Ihrer Mutter?« fragte ich, als wir die Wheelock Street hinauf zur Ortsmitte und zum College-Karree gingen, ich kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen unter dem Druck ihrer behandschuhten Finger auf meinem Arm, einem Gefühl, das durch die Schichten von Stoff nichts von seiner Köstlichkeit verlor.
»Nein. Ich habe zwei verheiratete Schwestern, deren Ehemänner – wie soll ich sagen? –, nun, vielleicht übermäßig bemüht sind, die finanziellen Interessen ihrer Frauen in dieser Angelegenheit zu wahren.« Ich entnahm dieser freimütigen Antwort, daß sie selbst die einzige unverheiratete Schwester war.
»Stehen diese Schwestern Ihnen nahe?« erkundigte ich mich.
»Meine Mutter stand mir nahe«, sagte sie.
»Hätten Sie nicht bis zur Regelung des Nachlasses in Ihrem Haus bleiben können?« fragte ich.
»Der Nachlaß muß zur Tilgung von Schulden herhalten. Josip Keep, der größte Gläubiger, Ehemann meiner ältesten
Weitere Kostenlose Bücher