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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Spaziergangs, außerordentliches Tauwetter, so daß die Straßen von einem grauenvollen Matsch aus schmelzendem Schnee, Ruß und durchweichter Erde bedeckt waren. Das brachte mich in ein Dilemma; ich hatte gerade meinen ersten neuen Anzug erstanden, mit einem Gehrock aus englischem Kammgarn, dazu ein Paar Lederschuhe von Brockton; beides würde ich ruinieren, wenn ich mich damit an diesem Tag auf die Straße begab. Ich entschloß mich zu einem Kompromiß, indem ich den neuen Anzug anlegte – bereit, die Aufschläge der Hose zu opfern –, jedoch meine alten Stiefel überzog.
    Ich war beinahe eine ganze Stunde zu früh fertig und harrte in meiner Wohnung aus, wo ich von Fenster zu Fenster wanderte, mich bald auf dem Bett niedersetzte, bald in den Spiegel sah (wie eitel wir doch werden, sobald wir in einen anderen Menschen verliebt sind) und die ganze Zeit den sauberen Stapel Hefte auf meinem Schreibtisch ignorierte, Prüfungsarbeiten, die ich lesen und korrigieren mußte – lauter Zeugnisse, dessen war ich mir bereits sicher, meiner ziemlich pedantischen und trockenen Herbstseminare. Die Hefte begleiteten meine Wanderungen mit stummem Vorwurf, aber ich spottete ihrer – denn welcher unter diesen vielen hundert Sätzen konnte auch nur einen Bruchteil der Wahrheit bezeugen, die mich im Griff hielt? Flüchtig erfaßte mich Besorgnis, daß ich vielleicht niemals wieder zu meinen früheren Verhaltensweisen und Gewohnheiten zurückfinden könnte, doch ich vergaß diese Sorge schon im nächsten Moment, als ein Blick auf die Uhr mir sagte, daß endlich der ersehnte Zeitpunkt herangerückt war: Es war zwanzig Minuten vor drei, und das bedeutete, daß ich mich nun auf den Weg machen konnte, um Etna Bliss im Haus ihres Onkels abzuholen.
    Sie war allein, als ich kam, ein glücklicher Umstand, da mir so ein Gespräch mit William Bliss erspart blieb, der sich vielleicht über meine Absichten Gedanken gemacht und mich, hätte er sie in Erfahrung gebracht, zweifellos mit anderen Augen betrachtet hätte. Etna trug ein Kleid aus feinem Stoff in Blau und Gold, wobei das Gold die Aufmerksamkeit so nachdrücklich auf ihre Augen lenkte, als besänge es sie in Arien. Ihr dunkelbraunes Haar war mit großer Sorgfalt frisiert, in raffinierte Rollen gedreht, die ineinander zu verschwinden schienen wie Straßen auf einer Landkarte. Das Kleid saß in der Taille ziemlich eng, und ich konnte nicht umhin, mit Wohlgefallen die strenge konische Form ihres Körpers zu bewundern, die sich, von der Taille aufwärts wie auch abwärts, zu züchtig verhüllter Fülle öffnete. Aber sagte ich nicht, daß mir als erstes stets das Gesicht einer Frau auffällt? So war es natürlich auch an diesem Tag, aber ich muß gestehen, daß der Ausdruck, den ich dort entdeckte, beileibe nicht einladend war, eher vorsichtig, was unter den Umständen durchaus verständlich war. Schließlich war ich ein Fremder.
    Wir tauschten einige höfliche Floskeln, und ich erkundigte mich nach dem Befinden der Tante und der Nichte (beide wieder ganz auf dem Damm). Dann sah ich (privilegierter Zeuge) zu, wie Miss Bliss eine goldene Samttoque auf ihr Haar setzte, die genau im richtigen Winkel auf den Scheitel gedrückt werden mußte. Sie gewährte mir einen faszinierenden Blick auf ihren Nacken, als sie das Hütchen vor dem Spiegel im Vestibül zurechtrückte, und ich war so gebannt von dem Schauspiel, daß ich einen Moment brauchte, um zu merken, daß es an der Zeit war, ihr in den Mantel zu helfen.
    Danach hakte sie sich zum erstenmal bei mir ein (so viele unvergeßliche erste Male in diesem Winter!), und wir schritten den Gartenweg hinauf zur Wheelock Street, wo wir uns nach Osten wandten, stadtauswärts. Ihre Stiefel waren durchnäßt, noch ehe wir um die Ecke gebogen waren. Am liebsten hätte ich meinen neuen Umhang auf der Straße vor ihr ausgebreitet, damit ihre Füße nicht von dem schmutzigen Schnee besudelt wurden, aber das ging natürlich nicht – allein schon wegen der Übertriebenheit einer solchen Geste, die eine normal denkende Frau womöglich verschreckt hätte, aber auch wegen der Unmöglichkeit, dies ständig zu wiederholen. Im starken Sonnenlicht konnte ich Etnas Züge klarer erkennen als je zuvor, und vielleicht entdeckte ich eine leichte Entspannung in ihrem Gesicht, als wir aus dem Haus traten und sie ihren ersten tiefen Atemzug in der frischen Luft nahm.
    »Professor Van Tassel, es ist ein wunderschöner Tag«, sagte sie plötzlich entwaffnend.
    »Leider ist er

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