Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
meiner Frau, während sie sich über das Papier beugte. (Ich war sicher, daß sie kurzsichtig war, aber sie gab es nicht zu – eine kleine Eitelkeit, für die ich bei einer Frau Verständnis hatte; seltsamer Zufall, daß ich seit langem eine Brille trug, obwohl ich – selbst mit fünfundvierzig – keine brauchte.) Das Licht vom Fenster lag auf ihrem Gesicht – den stark ausgeprägten Wangenknochen, den dunkelbraunen Wimpern, die ihre mandelförmigen Augen umkränzten, dem Ansatz ihres Haars an der Schläfe, dem langen Hals, der nur feine Fältchen aufwies. Ihre Schrift war groß und steil, und ich strengte mich an, um ihre Liste zu lesen, aber abgesehen von den Wörtern Lamm und Karbol konnte ich nichts entziffern.
Dann wurde meine Aufmerksamkeit vom Erscheinen unserer Kinder abgelenkt. Clara, die ihre Klassenarbeit in Geometrie erfolgreich hinter sich gebracht hatte, war weit besserer Stimmung als am Vortag und machte sich gleich mit Appetit über ihre Hafergrütze her, während Nicodemus, der kein guter Esser war, seine Schale mit Mißtrauen beäugte.
»Es ist nur Hafergrütze, Nicky«, sagte Etna.
»Ich will braunen Zucker und Rosinen«, erwiderte er, und Etna, die ihm oft nachgab, nickte Mary zu.
Wir hatten nur drei Dienstboten: Mary, unser Hausmädchen Abigail und Warren, den Gärtner. Nicht viele für die damalige Zeit. Nichts im Vergleich zu den dreizehn Hausangestellten Feralds oder den sieben Moxons. (Ich fragte mich oft, was sie den ganzen Tag taten. Moxon war nicht einmal verheiratet. Habe ich erwähnt, daß Moxon unerwarteten Erfolg mit seiner Biographie Lord Byrons hatte, einem populärwissenschaftlichen Werk, das ihm ein kleines Vermögen einbrachte? Ja, möglich. Neidete ich Moxon den Erfolg? Hm, ja, vielleicht.)
»Du siehst richtig gut aus heute«, sagte ich zu Clara. Mir war in den letzten Monaten aufgefallen, daß unsere bisher so spillerige Clara sich hübsch zu runden begann, daß sie größer wurde und ihr Körper so etwas wie weibliche Formen anzunehmen begann. Und ich beobachtete mit Befriedigung, daß sie allmählich einige ihrer burschikosen Angewohnheiten ablegte (mit gespreizten Knien zu sitzen; zu laufen anstatt gesittet zu gehen; herumzuzappeln, wenn sie still sitzen sollte wie zum Beispiel in der Kirche) und deutlich anmutiger in ihren Bewegungen wurde. Aber sie war natürlich immer noch ein Kind, vor allem im Umgang mit ihrem Bruder.
»Nicky hat seinen Namen hinten auf die Tür von seinem Zimmer geschrieben«, verkündete sie jetzt mit unverhohlener Schadenfreude sehr zum Schrecken ihres Bruders.
»Hab ich nicht!« rief er mit tränenerstickter Stimme, die uns das Gegenteil verriet. Er war mit seinen sechs Jahren unfähig zu lügen (und ist es heute immer noch, wie ich mich freue sagen zu können).
»Hast du doch!« beharrte Clara, »N-i-c-o-d-e-m-a-s. Nicht mal richtig geschrieben hat er es.«
»Ist das wahr?« wandte sich Etna an Nicky.
Jetzt begann er so heftig zu weinen, daß ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen, und wurde darüber noch zorniger.
»Womit hast du denn deinen Namen geschrieben?« fragte Etna sanft.
»Mit der schwarzen Malkreide aus meinem Zeichenkasten«, rief Clara prompt. »Und er hat die Kreide auch noch zerbrochen.«
Der Kleine konnte einem jetzt nur noch leid tun. Er hatte schließlich nichts Schlimmeres getan, als seine Zimmertür zu kennzeichnen (ich war sicher, die Kreide würde sich mühelos abwischen lassen), wohingegen Clara gepetzt hatte, was weit verwerflicher war. Das sind die kleinen Aufgaben, die einem als Eltern täglich präsentiert werden: die harmlosen von den nicht ganz so harmlosen Vergehen zu sondern.
»Nicky«, sagte Etna ruhig, »wenn du gefrühstückt hast, wischst du deinen Namen von deiner Zimmertür. Und du mußt Clara für die Malkreide bezahlen.«
»Aber womit soll ich das denn machen?« fragte Nicodemus.
»Mit Geld aus deinem Sparglas«, sagte seine Mutter.
»Aber was ist eine Malkreide überhaupt wert?«
»Zehn Cents«, sagte Clara prompt.
Mir war klar, daß diese Debatte, wenn man sie Clara und Nicky überließ, nie zu einem zufriedenstellenden Ende kommen würde, darum verfügte ich ganz willkürlich, daß Nicodemus seiner Schwester einen Penny bezahlen sollte, worüber Clara, nach deren Meinung die Malkreide viel mehr wert war, empört war, Nicky jedoch sehr zufrieden, da die Diskussion damit beendet war.
Die Kinder wandten sich ihrem Frühstück zu, und in der kurzen Stille, die eintrat, fielen sofort
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