Alles was ich sage ist wahr
Salat bestellen, aber wo? Und was haben die drei Ausrufezeichen zu bedeuten? Extreme Dringlichkeit? Um mit den Salatblättern einen Blutfluss zu stoppen? Wer weiß.
Das eine oder andere scheine ich im Laufe des Tages aber doch aufgeschnappt und abgespeichert zu haben. Als Ellen schließlich mit mir die Speisekammer durchgehen will, bin ich so fertig, dass ich fast doppelt sehe.
»Du Arme«, sagt Ellen. »Ich würde vorschlagen, wir beenden den Terror für heute. Du siehst völlig abgeschossen aus. Den Rest erledigen wir morgen.«
Ich nicke dankbar.
»Morgen wäre super«, sage ich. »Wann soll ich kommen?«
»Um eins«, sagt Ellen. »Dann zeigen wir dir, was nachmittags anliegt. Schließen, sauber machen, die Kasse abrechnen und so was.«
»Gut«, sage ich und füge hinzu: »Freu mich.«
Das Lustige ist, dass das nicht mal gelogen ist. Ich freu mich wirklich darauf zu lernen, wie man das Café schließt, sauber macht und die Kasse abrechnet. Wer hätte das gedacht?
Ich ertappe mich dabei, dass ich pfeifend nach Hause radele. Ich fühle mich gut. Der erste Arbeitstag ist rum und ich pfeife auf dem Nachhauseweg. Das muss ja wohl bedeuten, dass mein Entschluss gut war und ich mich auf dem richtigen Weg befinde? Ich bin sehr zufrieden mit mir. Ich pfeife immer noch, als ich im Flur die Schuhe ausziehe und mir ein Brot schmiere und mit einem Basilikumblatt garniere, wie ich es heute im Café gelernt habe. Um fünf Uhr höre ich abrupt mit dem Pfeifen auf, weil Mama nach Hause kommt und alles kaputt macht.
Das Erste, was sie beim Betreten der Wohnung sagt, ist nicht etwa: »Hallo, Schatz!«, oder: »Wie war’s bei der Arbeit?«, oder etwas anderes Nettes in der Art, wie man es hätte erwarten können. Das Erste, was sie beim Betreten der Wohnung sagt, ist: »Wieso bist du denn schon zu Hause? Haben sie dich am ersten Tag gleich wieder gefeuert? Was hast du angestellt?«
Ich bin schlagartig unendlich müde.
Wie ist das bloß möglich? Wie schafft meine eigene Mutter es in einer Sekunde, meine wunderbare Pfeiflaune zu einem Ball zusammenzuknüllen und mir so tief in den Hals zu stopfen, bis ich fast kotzen muss? Gibt es das bei der Entlassung aus dem Kreißsaal gratis dazu? »Bitte schön, Frau Lund/Larsson/Blomkvist, ein Geschenk vom Krankenhaus! Von nun an haben Sie die Macht, Ihr Kind klein zu halten, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen. Viel Vergnügen!«
Ich bohre meinen Blick in Mama und sage das einzig Richtige: »Ihr habt mich nicht verdient in dieser Familie. Ich ziehe zu Oma!«
* * *
Unter der Rutsche auf dem Spielplatz vor unserem Haus gibt es so eine Art Minihütte. Mit einer Bank, auf der die Kiddies sitzen können, und einem Fenster, aus dem sie ihre kleinen Köpfe stecken und rufen können: »Kauft lecker Eicheln!« Da bin ich, als ich noch kleiner war, immer hingezogen, wenn ich sauer auf Mama und Papa war. Es sind vielleicht hundert Meter da rüber, man kann die Rutsche von unserem Wohnzimmerfenster aus sehen. Manchmal habe ich eine Taschenlampe und meinen Schlafsack mitgenommen. Manchmal auch Verpflegung, je nachdem, wie akut es war, zu Hause rauszukommen. Da hockte ich dann in der Hütte, schickte todesverachtende Blicke zum Wohnzimmerfenster und dachte: HA! Heult ihr nur! Ich komm nie mehr nach Hause zurück! Nach spätestens zehn Minuten fing ich an, mich zu langweilen, und ging wieder nach Hause.
Das Gefühl in diesem Moment ist ganz ähnlich, aber das sage ich nicht laut.
Laut sage ich eine Reihe anderer, sorgfältig gewählter Worte, die Mama gar nicht gefallen. Vorsichtig ausgedrückt. Zwei Stunden setzt sie Himmel und Erde in Bewegung, mich zu besänftigen, dann ruft sie Oma an.
»Weißt du was darüber?«, schreit Mama ins Telefon.
Arme Oma. In Krisensituationen kommuniziert Mama wirklich nicht sehr verständlich.
»Was soll ich wissen?«
»Dass Alicia zu dir ziehen will, natürlich!«, sagt Mama und spuckt vor Aufregung. »Weil sie bei uns die › Unterstützung‹ vermisst, die sie in › dieser Phase ihres Lebens‹ braucht. Weil sie das Gefühl hat, wir nehmen ihr › die Luft zum Atmen‹. «
Ich wäge ab, sie umzubringen, als sie den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr klemmt, um die Finger für die Luftanführungszeichen frei zu haben, als sie das mit »dieser Phase ihres Lebens« und »Luft zum Atmen« ausspuckt. Ich kann ja verstehen, dass sie aufgewühlt ist. Aber es gibt trotzdem Grenzen, wie höhnisch man werden darf, ohne sich strafbar zu machen.
»Gib
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